Die Arktis verändert sich rasend schnell unter dem Klimawandel: Die Temperaturen an der Meeresoberfläche sowie in der Luft steigen, das Meereis wird immer dünner und zieht sich stärker zurück. Das hat große Auswirkungen auf das Ökosystem in der Arktis, denn: Die Zone direkt unter dem Meereis ist ein hochdynamischer Lebensraum für eine Vielzahl von Organismen. Welche genau das sind und wie sie vom schmelzenden Eis beeinflusst werden, hat ein Forschungsteam des Alfred-Wegener-Instituts nun in der nördlichen Framstraße genauer untersucht. Ihre Ergebnisse stellen sie in der Fachzeitschrift Science of The Total Environment vor.
Die arktische Randzone (marginal ice zone, MIZ) ist der Übergang zwischen dem Packeis und dem offenen Ozean und kann sich bis zu Hunderten Kilometern erstrecken. Sie ist ein Ökosystem, das maßgeblich von der physikalischen Dynamik des Meereises beeinflusst wird: mehrjähriges Eis wird durch dünneres, einjähriges Eis ersetzt, der innere Rand der MIZ dehnt sich deutlich Richtung Pol aus und am südlichen Rand gibt es mehr offene Wasserflächen. In dieser Zone leben spezialisierte Organismen an der unteren Oberfläche, direkt unter dem Eis oder im Wasser. „In unserer Studie untersuchen wir die marine Artenvielfalt in der oberen Wassersäule direkt unter dem Meereis in der Framstraße“, sagt Erstautorin Ayla Murray aus der Nachwuchsgruppe „ARJEL“ am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). „Und wir haben Umweltfaktoren identifiziert, die die Vielfalt in diesem einzigartigen Lebensraum unter dem Eis beeinflussen.“

Hierfür haben die Forschenden Meerwasserproben untersucht, die sie direkt unter dem Eis und in einer Tiefe von bis zu fünf Metern gesammelt haben. Die beprobten Eisstationen repräsentieren die verschiedenen Eisregime in der MIZ. Aus diesen Proben haben sie Umwelt-DNA (eDNA) extrahiert und mittels DNA-Metabarcoding Technologien analysiert. Das ist eine hochmoderne Methode, mit der Forschende kurze Genfragmente aus den Proben mit genetischen Referenzdatenbanken abgleichen und so feststellen können, welche Arten in der MIZ leben. Diese Ergebnisse haben sie mit satellitengestützten Umweltdaten und gleichzeitigen hydrographischen Messungen vor Ort kombiniert. „So konnten wir ein unerwartet hohes Maß an Biodiversität zutage fördern, das durch traditionelle Erhebungsmethoden weitgehend unbekannt geblieben wäre“, sagt ARJEL-Gruppenleiterin Prof. Charlotte Havermans. „Insbesondere haben wir festgestellt, dass diese Vielfalt unmittelbar unter dem Meereis größer ist als in fünf Metern Tiefe, was die ökologische Einzigartigkeit der obersten Wasserschicht unterstreicht.“
Außerdem konnten die Forschenden nachweisen, dass die Zusammensetzung der eukaryotischen Gemeinschaften – also Lebewesen mit Zellen, die einen echten Zellkern besitzen – stark von der Schmelzwasserschichtung, der Meereiskonzentration und der Nähe zur Eiskante beeinflusst wird. Die MIZ scheint also einzigartige und spezialisierte Lebensgemeinschaften zu beherbergen, die besonders anfällig für klimabedingte Veränderungen sein könnten. Da sich die marinen Ökosysteme der Arktis weiter verändern, wird es immer wichtiger, die Veränderungen der biologischen Vielfalt zu überwachen. „Angesichts der raschen Umweltveränderungen, sind diese Arten zunehmend bedroht“, fasst Ayla Murray zusammen. „Es besteht ein erhebliches Risiko, dass wir Arten verlieren, die nur in eisassoziierten Lebensräumen vorkommen, bevor wir sie überhaupt identifizieren können. Unsere Studie bietet daher wichtige Einblicke in dieses empfindliche Ökosystem und unterstreicht den dringenden Bedarf an weiteren Forschungs- und Schutzbemühungen.“
Originalpublikation:
Ayla Murray, Simon Ramondenc, Simon F. Reifenberg, Meret Jucker, Mara Neudert, Rebecca McPherson, Wilken-Jon von Appen, Charlotte Havermans. Eukaryotic biodiversity of sub-ice water in the marginal ice zone of the European Arctic: A multi-marker eDNA metabarcoding survey. Science of The Total Environment. 2025. https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2025.178840.