Lange Zeit ging die Wissenschaft davon aus, dass Quallen eine ernährungstechnische Sackgasse für Raubfische sind. Ein Team des Alfred-Wegener-Instituts hat gemeinsam mit dem Thünen Institut nun jedoch herausgefunden, dass Fische in grönländischen Gewässern sehr wohl Quallen in ihren Speiseplan integrieren. Bei zwei der untersuchten Arten machten sie sogar den Hauptteil der Nahrung aus, wie die Forschenden in einer Studie in der Fachzeitschrift Royal Society Open Science beschreiben. Die Ergebnisse legen nahe, die Rolle von Quallen als Beute in marinen Nahrungsnetzen neu anzuerkennen, vor allem vor dem Hintergrund, dass sie in gestressten Ökosystemen profitieren und sich immer weiter nach Norden ausbreiten könnten.
Quallen kommen in allen Ozeanen vor, von den polaren bis zu den tropischen Regionen. In Zukunft könnte sich das gelatinöse Zooplankton sogar noch weiter verbreiten, denn es zählt im allgemeinen zu den Gewinnern, wenn sich Ökosysteme durch Einflüsse des Klimawandels oder menschlicher Aktivitäten verändern: Anders als andere Arten, können Quallen besser damit umgehen, dass die Weltmeere wärmer sowie saurer werden und in den neuen Ökosystemen gedeihen.
„Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass wir überdenken und verstehen, wie sich Quallen und gelatinöses Zooplankton generell in marine Nahrungsnetzen einordnen“, sagt Dr. Charlotte Havermans, Leiterin der Nachwuchsgruppe ARJEL am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). In einer neuen Studie hat sie deshalb mit ihrem Team untersucht, welche Rolle gelatinöse Zooplankton als Beute für Fische in grönländischen Gewässern spielen.
Die grönländischen Gewässer beheimaten große Mengen verschiedenster Arten von gelatinösem Zooplankton. Doch ob und in welchem Ausmaß Quallen und Co auf dem Speiseplan der hier heimischen Fische stehen, war bislang ungeklärt. „Wir haben den Mageninhalt von sieben Fischarten untersucht, darunter kommerziell genutzte Arten wie etwa den Kabeljau und Schellfisch“, so Charlotte Havermans. „Mit Hilfe von DNA-Metabarcoding konnten wir sehr genau feststellen, von welchen Arten sich die Tiere ernährt haben.“
Die Ergebnisse überraschen: „Wir fanden DNA von Quallen in den Mägen aller untersuchten Fischarten, allerdings in unterschiedlichen Mengen“, sagt Annkathrin Dischereit, Erstautorin der Studie und Doktorandin in ARJEL. Bei zwei Arten, dem Goldlachs und dem Blauer Seewolf, machten sie sogar den größten Anteil der Nahrung aus. Und das obwohl man lange Zeit davon ausging, dass gelatinöses Zooplankton eine ernährungstechnische Sackgasse ist, welches allenfalls Notfallnahrung für einige Fischarten ist. „Diese Annahme beruht darauf, dass ihr Gewebe von Raubfischen schnell verdaut wird und Quallen daher nur selten in Untersuchungen als Beutetiere erfasst werden“, erklärt Annkathrin Dischereit.
Moderne Methode zeigt: Rolle von Quallen ist größer als bisher gedacht
Hier konnte das DNA-Metabarcoding Abhilfe schaffen: Mit dieser hochmodernen Methode konnten die Forschenden kurze Genfragmente in den Mägen aufspüren, diese mit genetischen Referenzdatenbanken vergleichen und so jene Beutetierarten identifizieren, zu denen die Fragmente gehörten. „Wir konnten sehen, dass sich jede untersuchte Art von Quallen oder anderem gelatinösen Plankton ernährt hat“, erklärt Annkathrin Dischereit. „Wir haben bis zu 59 Arten gelatinöser, wirbelloser Tiere in den Mägen der Fische nachgewiesen. Das macht deutlich, dass sie eine beträchtliche, aber bisher übersehene Rolle im subarktischen Nahrungsnetz spielen.“ Der Mageninhalt einiger dieser Arten war in diesem Gebiet noch nie zuvor analysiert worden.
Die Studie zeigt, dass wir unsere Sicht über die Rolle von Quallen und Co in marinen Nahrungsnetzen überdenken müssen. Gelatinöses Zooplankton ist mehr als nur ein Notnagel. Es ist Beute für Raubfische, die oben in der Nahrungskette stehen. „Unsere Ergebnisse werfen die Frage auf, warum Fische Quallen anscheinend überraschend häufig fressen“, sagt Charlotte Havermans. Trotz ihrer geringen Energiedichte könnte ihr Beitrag zum Energiehaushalt von Raubtieren beträchtlicher sein als bisher angenommen: Sie könnten schneller verdaut werden, sind leichter zu jagen, kommen immer häufiger vor und liefern dank ihrer Ernährung energiereiche Bestandteile.
„Hier gibt es noch Forschungsbedarf“, sagt Annkathrin Dischereit. „Unsere Studie bietet eine zeitliche Momentaufnahme, die nur die kürzlich aufgenommene Beute berücksichtigt. Wir müssen kontinuierliche Proben über das ganze Jahr hinweg sammeln und diese damit verbinden, wie sich die gelatinösen Gemeinschaften in diesem Zeitraum verändern. Nur so können wir die trophischen Verbindungen zwischen Fischen und ihnen verstehen.“
Das sei unbedingt nötig, wie Charlotte Havermans sagt: „Nur ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse können Aufschluss darüber geben, warum Quallen für Fische und andere Organismen wichtig sind.“ Für mehrere Arten, wie den Rotbarsch, wurden bisher keine Ernährungsstudien durchgeführt. „Die Ergebnisse der aktuellen Studie geben Anlass zum Zweifel darüber, wie gut wir subpolare Ökosysteme verstehen und wie sich die jüngst beobachtete Zunahme von gelatinösem Zooplankton darauf auswirken könnte.“
Originalpublikation
Annkathrin Dischereit, Julia Katharina Throm, Karl-Michael Werner, Stefan Neuhaus, Charlotte Havermans (2024). A belly full of jelly? DNA metabarcoding shows evidence for gelatinous zooplankton predation by several fish species in Greenland waters. Royal Society Open Science. https://doi.org/10.1098/rsos.240797.