Die Arktis verändert sich unter dem Klimawandel rasend schnell. Nicht nur die steigende Lufttemperatur setzt ihr zu, auch warmes Wasser aus dem Atlantik, das mehr und mehr einfließt, verändert zunehmend die Strukturen und Funktionen der Ökosysteme. Denn mit diesem gelangen immer häufiger Arten aus wärmeren Gebieten in die Arktis, wie zum Beispiel Quallen. Forschende des Alfred-Wegener-Instituts konnten nun erstmals mithilfe von DNA-Metabarcoding nachweisen, dass diese Quallen Flohkrebsen auf Spitzbergen als Nahrung während der Polarnacht dienen und damit eine größere Rolle in arktischen Nahrungsnetzen einnehmen, als bisher angenommen. Ihre Ergebnisse stellen sie in einem aktuellen Artikel im Fachmagazin Frontiers in Marine Science vor (doi: 10.3389/fmars.2024.1327650).
In den letzten Jahren hat salzhaltiges, warmes Wasser aus dem Atlantik immer häufiger seinen Weg in die europäische Arktis gefunden. Auch die norwegische Inselgruppe Spitzbergen steht unter dem Einfluss dieser „Atlantifizierung“: Der Kongsfjord an der Westküste ist in ein atlantisches Regime übergegangen; die Wassertemperatur in der Polarnacht (November bis Februar) hat sich um etwa 2 Grad Celsius pro Jahrzehnt erwärmt. Diese Veränderungen führen auch zu biotischen Verschiebungen, denn mit dem warmen Atlantikwasser strömen auch Arten aus wärmeren Gewässern in die Arktis. „Besonders einige Quallenarten neigen dazu, sich polwärts und in der Arktis auszubreiten“, sagt Charlotte Havermans, Leiterin der Nachwuchsgruppe ARJEL am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). „Als wir in der Polarnacht 2022 im Kongsfjord waren, wimmelte es zu unserer Überraschung im Fjord nur so vor Quallen verschiedener Arten und Lebensstadien. Sie schienen im Winter das dominierende Zooplankton zu sein.“
In der Vergangenheit galten Quallen als trophische Sackgasse in marinen Nahrungsnetzen, aber aktuelle Studien legen nahe, dass sie wichtige Beutetiere für wirbellose Meerestiere und Fische sind. „Daher fragten wir uns, ob die Quallen im Kongsfjord auch als Nahrung für andere Organismen dienen, insbesondere in der dunklen Jahreszeit der Polarnacht, in der andere Nahrungsquellen begrenzt sind“, sagt Havermans. Um diese Frage zu beantworten, untersuchte sie mit Annkathrin Dischereit aus ihrem Team den Mageninhalt verschiedener Flohkrebsarten (Amphipoden). Über einen Monat lang haben sie während der Polarnacht mit Köderfallen und Handnetzen regelmäßig Proben von vier verschiedenen Amphipoden-Arten gesammelt (Gammarus oceanicus, G. setosus, Orchomenella minuta and Anonyx sarsi).
Quallen sind fester Bestandteil der Ernährung von Flohkrebsen während der Polarnacht
Mit Hilfe von DNA-Metabarcoding haben die AWI-Forschenden das Nahrungsspektrum der kleinen Krebstiere bestimmt. Diese hochmoderne Methode kann kurze Genfragmente im Magen aufspüren, die dann mit genetischen Referenzdatenbanken verglichen werden, um die Beutetierarten zu identifizieren, zu denen die Fragmente gehören. „Wir fanden eine große Anzahl von Quallen-Sequenzen in den Mägen der Amphipoden, von den größten Quallen im Fjord bis hin zu winzigen Nesseltierchen“, erklärt Charlotte Havermans. Über das DNA-Metabarcoding konnte das AWI-Team auch bei schon stark verdautem Mageninhalt nachweisen, daß Quallen und andere Organismen als Nahrung dienen. „Wir konnten zum ersten Mal zeigen, dass sich Amphipoden-Aasfresser von den Überresten von Quallen ernähren. Das wurde bisher nur in experimentellen Umgebungen gezeigt.“
Alle untersuchten Arten ernährten sich sowohl pflanzlich als auch tierisch. Neben Quallen waren Krustentiere und Makroalgen weitere wichtige Bestandteile der Ernährung einiger Arten, während Fischarten wie der Polardorsch oder der Schneckenfisch eine wichtige Rolle bei anderen Arten spielt. Es bleibt zu klären, ob sich die Amphipoden von Eiern, Larven, Aas oder Kot der Fische ernähern. Auch muss weiter erforscht werden, ob Quallen nur im Winter als „Überlebensnahrung“ dienen oder in allen Jahreszeiten zur regulären Beute dieser Organismen gehören. „Wir sind immer davon ausgegangen, dass der Nährwert von Quallen gering ist, aber das ist bisher nur für weniger als eine Handvoll Arten erforscht und hängt auch von den untersuchten Geweben ab.“
Diese Ergebnisse bieten komplett neue Einblicke in das arktische Nahrungsnetz während der Polarnacht und sind der erste natürliche, nicht-experimentelle Nachweis für die Rolle von Quallen in diesen Netzen. „Die florierende, vielfältige Quallen-Gemeinschaft, die im Winter im Kongsfjord vorkommt, wird eindeutig als Nahrungsquelle genutzt“, fasst Charlotte Havermans die Ergebnisse zusammen. „Bisher wussten wir noch nichts über die Rolle von Quallen als Beutetiere in diesem Gebiet. Es war auch nicht bekannt, dass sich beispielsweise die Art Gammaridea überhaupt von Quallen ernährt, nicht in der Arktis, aber auch nicht anderswo.“ Nun stellt sich die Frage, ob dies nur für die Polarnacht gilt, wenn das Nahrungsangebot begrenzt ist. Hieran will die Nachwuchsgruppe ARJEL am AWI weiterforschen. Denn: „Quallen könnten zu den Gewinnern des Klimawandels gehören, die sich bei steigenden Temperaturen weiter ausbreiten werden. Auch für die Arktis gehen wir davon aus, dass Quallen bei weiterer Erwärmung häufiger vorkommen werden“, so Havermans. Dadurch könnte auch ihre Rolle im Nahrungsnetz immer wichtiger werden.
Bislang war das Verständnis hierzu allerdings begrenzt, insbesondere in den Polarregionen. „Mit dieser Studie decken wir entscheidende Verbindungen im arktischen Nahrungsnetz auf, die bisher nicht bekannt waren. Das ist elementar, denn wir müssen verstehen, wie sich Quallen in Nahrungsnetze einfügen und sich in einer Arktis verbreiten, die sich rasend schnell wandelt. Das gilt auch für die angrenzenden Schelfmeere, da in diesen Gebieten zehn Prozent des weltweiten Fischereiwesens stattfinden.“
Originalpublikation
Dischereit A, Beermann J, Lebreton B, Wangensteen OS, Neuhaus S and Havermans C (2024) DNA metabarcoding reveals a diverse, omnivorous diet of Arctic amphipods during the polar night, with jellyfish and fish as major prey. Frontiers in Marine Science. doi: 10.3389/fmars.2024.1327650