Neue Arten im Watt

Das Wattenmeer verändert sich derzeit so rasant wie vermutlich seit tausenden von Jahren nicht mehr. Schon jetzt leben hier zahlreiche eingeschleppte Tier- und Pflanzenarten, die es vor 100 Jahren in der Nordsee noch gar nicht gab. Diese Neulinge stammen von weit entfernten Küsten und gelangten nur mit Hilfe des Menschen ins Watt. Die Lebensgemeinschaft auf Sand und Schlick hat sich dadurch massiv verändert – und tut dies immer noch, denn jedes Jahr kommen ein bis zwei eingeschleppte Arten hinzu. Auf viele heimische Spezies erhöht die neue Konkurrenz den Druck – doch manche profitieren auch. 

Das Wattenmeer – ein ökologischer Schatz von unschätzbarem Wert

Entlang der Nordseeküsten von Dänemark, Deutschland und den Niederlanden erstreckt sich mit rund 11.500 Quadratkilometer Fläche und 500 Kilometer Länge das größte zusammenhängende Wattenmeer der Welt. Wellen, Wind und der stete Wechsel aus Ebbe und Flut haben hier eine außergewöhnlich vielfältige Landschaft geschaffen. Das dem Watt vorgelagerte, relativ flache Meeresgebiet der Nordsee ist voller Nährstoffe. Entsprechend gut gedeihen hier mikroskopisch kleine Algen im Wasser (Phytoplankton), die sich oft massenhaft vermehren können. Diese Mikroalgen, sowie solche, die auf dem Meeresboden im Watt selbst produziert werden, machen das Watt zu einem der produktivsten Naturräume weltweit. Es ist die üppige Nahrungsgrundlage für eine Organismengemeinschaft mit mehr als 10.000 Pflanzen- und Tierarten. Die weiten Wattflächen aus Sand sind fast vollständig von Algen- und Bakterienkolonien überzogen. Versteckt im Sediment sorgen mehr als eine Milliarde Wattwürmer dafür, dass der Sand regelmäßig durchmischt und mit Sauerstoff angereichert wird. An die Gezeitenzone Richtung Land schließen sich dann die typischen Salzwiesen an. Diese werden nur bei Spring- und Sturmfluten überspült und beherbergen eine Reihe hochspezialisierter Pflanzenarten. Die räumliche Vielfalt und die hohe Primärproduktion machen das Wattenmeer zur idealen Heimat für Fische, Krebse, Würmer und Muscheln. Zugleich ist es Kinderstube für Seehunde, Kegelrobben und Schweinswale sowie wichtiger Brut- und Rastplatz für unzählige Küsten- und Zugvögel.

Was sind Neobiota?

Als Neobiota – also „neues Leben“ – werden Arten bezeichnet, die sich durch menschlichen Einfluss in einem Gebiet ausbreiten, in dem sie zuvor nicht heimisch waren. Oft stammen sie aus weit entfernten Regionen und werden durch den Menschen unbeabsichtigt eingeschleppt. So hat der intensive globale Handel die Ausbreitung von Neobiota in den vergangenen einhundert Jahren massiv befördert. Exotische Tiere und Pflanzen werden – zum Beispiel versteckt in der Ladung von Schiffen und Flugzeugen – innerhalb von Stunden und Tagen über den ganzen Planeten transportiert. In der Vergangenheit wurden manche Arten auch vom Menschen absichtlich und meist mit negativen Folgen ausgesetzt – etwa zur biologischen Schädlingsbekämpfung. Im englischen Sprachraum hat sich für Neobiota der Begriff „invasive species“, also invasive Arten etabliert. Das aus dem Militärischen stammende Wort „Invasion“ ist jedoch sehr negativ besetzt und suggeriert eine überfallartige Ausbreitung, die für das heimische Ökosystem zwangsläufig in einer Katastrophe endet. Nur vergleichsweise selten – wie etwa auf abgelegenen Inseln – bewirken Neobiota jedoch ein komplettes Aussterben heimischer Arten. Gleichzeitig schaffen sie fast immer neue Konkurrenz für Tiere und Pflanzen mit ähnlicher Lebensweise. Dadurch kann es bei einigen heimischen Spezies zu Bestandseinbrüchen und in der Folge zu großen Verschiebungen im komplexen Beziehungsgeflecht der Artengemeinschaft kommen. Diese kann dadurch anfälliger gegenüber störenden Einflüssen wie dem Klimawandel werden. Insofern gibt es gute Gründe, die Verbreitung eingeschleppter Arten zu überwachen – und wenn möglich, zu verhindern.

Zahlen und Fakten

100

Arten

Mehr als 100 eingeschleppte marine Arten wurden bis heute an der Nordseeküste nachgewiesen und haben sich hier dauerhaft etabliert.

1 bis 2

Arten

Derzeit werden pro Jahr 1 bis 2 neu eingeschleppte Arten an der Nordseeküste entdeckt.

16

Probestationen

Entlang der deutschen Nord- und Ostseeküste werden die Organismengemeinschaften jährlich an 16 Probestationen untersucht und neue Arten registriert.

FAQ

Wie kommen neue Arten ins Wattenmeer?

Die Hauptursachen für die Ausbreitung von Neobiota in den Meeren sind Seehandel und Aquakultur. Der globale Schiffsverkehr ermöglicht den Austausch von Arten zwischen weit entfernten Küstengebieten. So setzen sich etwa Seepocken und Muscheln an den Stahlrümpfen der Containerriesen fest, andere Arten schwimmen in dem zur Stabilisierung der Schiffe aufgenommenen Ballastwasser. Erreicht das Schiff das Zielgebiet werden Ladung und Ballastwasser gelöscht. Dadurch gelangen die Organismen, die die transozeanische Reise in den Tanks überlebt haben, in neue Lebensräume oder haben ausreichend Zeit, sich vom Schiffsrumpf zu lösen und im Ankunftsgebiet anzusiedeln. Ein weiterer Verbreitungsweg für neue Arten ist die Aquakultur. Das bekannteste Beispiel im Nordseewatt ist die Pazifische Auster. Die schmackhafte Muschel wird seit den 1980er Jahren als Saatauster importiert, um dann in Netzbeuteln im nahrungsreichen Wattenmeer zur Marktreife gemästet zu werden. Die Auster selbst hat sich in der Folge auch außerhalb der Zuchtanlagen erfolgreich an der deutschen Nordseeküste etabliert. Doch damit nicht genug. Im Umfeld der Muschelfarmen werden immer wieder gebietsfremde Arten entdeckt, die vermutlich als blinde Passagiere auf den Muschelschalen mitgereist sind. Der menschengemachte Klimawandel und die damit verbundenen steigenden Wassertemperaturen in der Nordsee machen es diesen Neuankömmlingen, die oft aus wärmeren Regionen stammen, zusätzlich leichter, sich in der neuen Heimat auch heimisch zu fühlen. Fest steht: Alle drei Faktoren – Seehandel, Aquakultur, Klimawandel – gehen auf das Wirken des Menschen zurück.

Welche eingeschleppten Arten gibt es heute im Watt und woher stammen sie?

Die meisten der rund ein hundert neuen Arten im Watt stammen aus dem Pazifikraum, unter anderem deshalb, weil dort seit vielen Jahren auch der Schwerpunkt des internationalen Seehandels liegt. Dies wird an den Namen der wichtigsten Neuankömmlinge deutlich: Pazifische Felsenauster, Japanischer Beerentang, Pazifische Felsenkrabbe, Australische Seepocke. Von der nordamerikanischen Atlantikküste stammen dagegen etwa die Amerikanische Pantoffelschnecke und die Amerikanische Schwertmuschel, die erstmals 1979 in der Deutschen Bucht nachgewiesen wurde. 

Wie hat sich das Watt durch die neuen Arten verändert?

Besonders die eingeschleppte Pazifische Auster hat das Erscheinungsbild des Wattenmeers deutlich verändert. Heute bilden sie in der Gezeitenzone großflächige Riffstrukturen. Die für diese Region eigentlich typischen Miesmuschelbänke haben sich dadurch grundlegend verändert. Die zunächst befürchtete völlige Verdrängung der heimischen Schalentiere ist jedoch ausgeblieben. Zwar gingen ihre Bestände deutlich zurück, doch wer genauer hinsieht, entdeckt die Miesmuscheln auch heute noch zwischen den deutlich größeren Austern, wo sie vor Räubern geschützt ihre Nahrung aus dem Wasser filtrieren. Diese neuen „gemischten“ Riffe bieten auch anderen nicht heimischen Arten einen attraktiven Lebensraum. Dazu gehört neben der Pazifischen Felsenkrabbe auch der Japanische Beerentang. Dieser überwächst die Austernriffe und bildet dichte Unterwasserwälder, die es so im Wattenmeer zuvor nicht gab. Einige gefährdete heimische Fischarten wie die mit den Seepferdchen verwandten Schlangennadeln und der Seestichling haben den Tang sogar als geschützten neuen Lebensraum angenommen und konnten sich erholen. Die Ausbreitung der Pazifischen Auster hat so die Grundlage für ein völlig neues Habitat gelegt, das einigen eingeschleppten und heimischen Arten auch Chancen bietet. 

Dennoch bedeutet dies nicht, dass die Ausbreitung von Neobiota unbedenklich oder gar wünschenswert ist. Zwar haben sich die wichtigen ökologischen Funktionen des Wattenmeeres bislang erhalten. Doch die Konsequenzen jeder neuen Einschleppung bleiben unvorhersehbar. Und auch die Ausbreitung der Pazifischen Auster zeigt bereits deutlich eine gefährliche Schattenseite. So entdeckten AWI-Forschende 2020 im Watt vor Sylt große Flächen der hier zuvor unbekannten Schlauchalge Vaucheria velutina. Diese könnte ebenfalls „huckepack“ auf Austern in die Nordsee gelangt sein und bildet schon heute ausgedehnte Teppiche, die feine Schlickpartikel einfangen. Diese könnten die Gänge der unermüdlich grabenden Wattwürmer verstopfen – mit möglicherweise erheblichen negativen Folgen für das ganze Ökosystem. 

Wie werden Neobiota im Watt wissenschaftlich überwacht?

Um die Etablierung und Ausbreitung von nicht-heimischen Arten im deutschen Wattenmeer zu dokumentieren, wurde im Jahr 2009 ein Überwachungssystem eingerichtet. Dazu werden in ausgewählten Häfen und Standorten mit Aquakultur jährlich Untersuchungen durchgeführt, da hier die Etablierung und damit Erstentdeckung neuer Arten sehr wahrscheinlich ist. Die daraus gewonnenen Informationen werden in einer Neobiota-Informationsstelle zentral gesammelt. Die Daten gehen dabei auch in die Bewertung des ökologischen Zustands der Nordsee im Rahmen der Europäischen Meeresstrategie-Richtlinie ein. 

Kontakt

Portraitfoto von Dr. Christian Buschbaum

Christian Buschbaum

Meeresökologe Dr. Christian Buschbaum, Experte zum Thema Küstenforschung