Ein riesiger Eisberg ist vor rund zwei Wochen vom Antarktischen Eisschild abgebrochen. Die Polarstern ist als einziges Forschungsschiff vor Ort und hat die Gelegenheit genutzt, in den Spalt zwischen Brunt-Schelfeis und Eisberg zu fahren. Erste Aufnahmen vom Meeresboden zeigen eine erstaunliche Lebensvielfalt in einer Region, die für Jahrzehnte von dickem Eis bedeckt war. Sedimentproben sollen nun genaueren Aufschluss über das Ökosystem bringen und die geochemische Analyse der gewonnenen Wasserproben erlaubt Rückschlüsse über Nährstoffgehalt und Wasserströmungen.
Die Welt blickt auf Satellitenaufnahmen des riesigen Eisberges namens A74, der am 26. Februar 2021 vom Brunt-Schelfeis in der Antarktis abgebrochen ist; mit 1270 Quadratkilometern ist der Eisberg etwa doppelt so groß wie Berlin. Der deutsche Forschungseisbrecher Polarstern ist als einziges Forschungsschiff vor Ort und es ist ihm gelungen, in den Spalt zwischen Schelfeiskante und Eisberg vorzudringen, um den jahrzehntelang unter hunderten Metern Eis verborgenen Meeresboden zu erkunden. Die Forschenden des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) und ihre internationalen Partner erreichten das Gebiet kurz nach dem Abbruch. Einmalige Aufnahmen des Meeresbodens, Sedimentproben vom Meeresgrund und geochemische Messungen der darüber liegenden Wassersäule sorgen an Bord für Begeisterung. Stürmische Winde hatten die Polarstern zunächst aus dem Gebiet ferngehalten, am Wochenende (13./14. März 2021) gab der Kapitän jetzt angesichts günstigerer Wetterbedingungen grünes Licht, um den Eisberg zu umrunden und das Gebiet zu erkunden.
Bundesforschungsministerin Anja Karliczek unterstreicht die Bedeutung dieser Mission, die über die institutionelle Förderung des AWI durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung ermöglicht wird, wie folgt: „Es ist eine einmalige Gelegenheit, die sich den Forscherinnen und Forschern auf der Polarstern am Antarktischen Eisschild bietet. Ich bin der Besatzung der Polarstern dankbar, dass sie die damit verbundenen Strapazen und auch Risiken auf sich nehmen. Die Polarforschung trägt entscheidend mit dazu bei, den Klimawandel und seine Folgen für unsere Erde besser zu verstehen und vorauszusehen. Wir brauchen dieses Wissen, um beim Klimawandel wirksam gegensteuern zu können. Die Auswirkungen des Klimawandels unter anderem in der Antarktis sind besorgniserregend.“
Diese Forschung vor Ort ist elementar, um die Prozesse zu verstehen, die ein massiver Eisbergabbruch nach sich zieht. Sie sind eine wichtige Momentaufnahme, nur selten gelingt es aber vor Ort zu sein, wenn ein Gebiet erstmals eisfrei wird und mit Sonnenlicht in Kontakt kommt. So große Eisberge brechen in der Antarktis nur etwa alle 10 Jahre ab. Kleinere Eisberge werden öfter freigesetzt: Schnee fällt, wird zu dicken Eisschichten komprimiert und diese rutschen dann langsam den Kontinent Richtung Meer herab. Ausläufer des Eises schwimmen als sogenanntes Schelfeis auf dem Ozean, liegen also nicht mehr auf festem Boden auf und kalben letztendlich, wenn ihre Verbindung zu den Gletschern durch weiter nachgeschobenes Eis instabil wird.
Bislang hat der Klimawandel vor allem die Westantarktis erwärmt, auf die Ostantarktis und somit das aktuelle Forschungsgebiet der Polarstern hat sich der globale Temperaturanstieg noch nicht ausgewirkt. Klimamodelle prognostizieren jedoch, dass auch im östlichen antarktischen Weddellmeer die Lufttemperatur im Laufe dieses Jahrhunderts ansteigen wird, mit negativen Auswirkungen für das Meereis. Solche Veränderungen zögen dann grundlegende Veränderungen der Hydrographie mit sich: Bisher verhindert eine stabile Front, dass relativ warmes Wasser Richtung Schelfeis gelangt. Wenn dünneres und weniger Meereis weniger Salz in die Wassersäule entlässt, könnte diese Front instabil werden und das wärmere Wasser ließe das Schelfeis von unten schmelzen. Zudem könnte auch eine wärmere Atmosphäre die Eisberge schneller kalben lassen. Aktuell verliert die Antarktis schneller Eismasse als noch vor dem Jahr 2000 wie Forschende des AWI beobachten.
Um solche Modellrechnungen überhaupt anstellen zu können, braucht es Daten aus den betroffenen Regionen – und das nicht nur einmalig, sondern über lange Zeiträume. Das Alfred-Wegener-Institut führt daher bereits seit den 1980er Jahren Polarstern-Expeditionen ins antarktische Weddellmeer durch. Meeresboden, Ozean, Eis und Atmosphäre sind dabei Forschungsgegenstand – mit jeweils unterschiedlichen Expeditionsschwerpunkten. „Es ist ein Glücksfall, dass wir flexibel reagieren und das Abbruchgeschehen am Brunt-Schelfeis aktuell so detailliert erforschen konnten“, sagt Dr. Hartmut Hellmer, physikalischer Ozeanograph am AWI und Leiter der Expedition. Das geplante Forschungsgebiet erstreckt sich auf das südöstliche Weddellmeer und lag somit ohnehin in der Nähe. „Noch glücklicher bin ich jedoch, dass wir eine große Anzahl von Verankerungen erfolgreich ausgetauscht haben, die auch in unserer Abwesenheit elementare Daten von Temperatur, Salzgehalt, Strömungsrichtung und -geschwindigkeit aufzeichnen. Sie bilden die Grundlage für unsere Modellrechnungen darüber, wie die Eisschilde auf einen Klimawandel reagieren werden. So können wir mit größerer Sicherheit prognostizieren, wie schnell der Meeresspiegel zukünftig ansteigen wird – und Politik und Gesellschaft verlässliche Daten liefern, um notwendige Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel zu treffen“, sagt Hartmut Hellmer.
Am Meeresboden war die Lebensvielfalt trotz der jahrelangen kontinuierlichen Eisbedeckung groß. Das Tiefsee-Forschungsteam beobachtete zahlreiche Tiere, die auf unterschiedlich großen Steinen festsitzen, umgeben von einer Schlammlandschaft. Die Steine stammen vom Antarktischen Kontinent und werden mit den Gletschern ins Meer transportiert. Die meisten dieser Organismen sind Filtrierer. Ob sie sich weitgehend von Algenresten ernähren oder von organischen Partikeln, die mit dem Eis transportiert werden, bleibt zu klären. Entdeckt wurden auch einige mobile Arten wie Seegurken, Seesterne, verschiedene Weichtiere sowie mindestens fünf Fischarten und zwei Tintenfischarten. Dieses überraschend artenreiche Ökosystem hat das Tiefsee-Team mit Hilfe des OFOBS (Ocean Floor Observation and Bathymetry System) erstmals fotografiert und gefilmt. Die Kameraplattform wird an einem langen Draht vom Schiff geschleppt und die Forschenden sind dementsprechend vom Eisabbruch abhängig gewesen, um den bisher unzugänglichen Meeresboden zu erkunden. Zukünftig sollen neue Technologien wie autonome Unterwasserrobotik eingesetzt werden, um solche Lebensräume zu erforschen.