Meereisphysiker des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) haben eine neue Methode entwickelt, mit der sie erstmals die Verbreitung und Mächtigkeit des sogenannten Plättcheneises in der Antarktis großflächig vermessen können. Bei diesem Eis handelt es sich um eine mehrere Meter dicke Schicht aus filigranen Eiskristallen unter dem Meereis, über die bisher nur relativ wenig bekannt ist. Das Plättcheneis ist in den Küstengewässern der Antarktis sowohl für das Leben im Meer als auch als Indikator für den Zustand schmelzender Schelfeisgebiete von zentraler Bedeutung. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftler open access in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Geophysical Research Letters.
Jedes Jahr im Südwinter friert das Meer rundum den antarktischen Kontinent großflächig zu. Dieses Meereis ist jedoch nicht das einzige Eis, das im Winter dort wächst. Verborgen unter der Eisdecke bildet sich im selben Zeitraum ein außergewöhnlicher Lebensraum: eine mehrere Meter dicke Schicht aus losen Eiskristallen. Ja, unter dem Meereis der Antarktis sieht es mancherorts aus wie in einem mit „crushed ice“ gefüllten Cocktailglas – mit dem Unterschied, dass die Kristalle im Südpolarmeer zu handtellergrossen, millimeterdünnen Platten heranwachsen, sodass Forscher diesem spektakulären Phänomen schon vor Jahrzehnten den Namen „Plättcheneis“ gegeben haben.
Lange wusste man kaum etwas über diese einzigartige Eismasse. In den vergangenen Jahrzehnten aber haben Forscher herausgefunden, dass das Plättcheneis in einigen Regionen um die Antarktis maßgeblich zur Massenbilanz des Meereises beiträgt und gleichzeitig einen einmaligen Lebensraum darstellt: An und zwischen den Platten gedeihen unzählige Algen, welche die Basis eines ganz eigenen Ökosystems darstellen. Sie sind Nahrung für Myriaden von Kleinkrebsen und Fischen, die zwischen den Eisplättchen Schutz vor größeren Räubern wie Robben und Pinguinen finden.
Über die Ausdehnung und Mächtigkeit des Plättcheneises aber war bisher nur sehr wenig bekannt. Für gewöhnlich stießen Forscher nur eher zufällig auf das Plättcheneis – zum Beispiel, wenn sie das Meereis durchbohrten, um dessen Dicke zu messen. Jetzt aber ist es einem Forscherteam des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), der Jacobs-Universität Bremen und der Universität Uppsala erstmals gelungen, eine Methode zu entwickeln, mit der sich die Verbreitung und das Volumen des Plättcheneises großflächig erfassen lässt.
Wie die Wissenschaftler in einer aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Geophysical Research Letters schreiben, setzten sie für die Plättcheneis-Vermessung erstmals ein sogenanntes Multifrequenz-EM-Gerät ein. EM steht für „elektromagnetische Induktionsmessung“. Dabei handelt es sich um ein physikalisches Verfahren, das die elektrische Leitfähigkeit des Untergrundes misst. So unterscheidet sich etwa die Leitfähigkeit festen Meereises deutlich von der des salzigen Meerwassers darunter. Das bedeutet, ein EM-Messgerät kann auf diese Weise den Übergang von Meereis zu Wasser leicht erspüren und ermöglicht es den Meereisphysikern, die Eisdicke zu berechnen.
Der Übergang vom Meereis zum Plättcheneis aber ist deutlich unschärfer. Herkömmliche EM-Messgeräte, welche die Übergänge zwischen Eis und Wasser mit nur einer einzigen Frequenz bestimmen, konnten das Plättcheneis nur schwer vom Meereis oder Wasser unterscheiden. Mit der neuen Multifrequenz-Methode aber können die Forscher die Übergänge von Meereis zu Plättcheneis und Wasser nun erstmals zentimetergenau bestimmen, ohne dafür aufwändig Löcher ins Eis zu bohren und die Dicken mit Maßbändern zu messen.
„Unsere Ergebnisse haben uns selbst überrascht“, sagt der AWI-Meereisphysiker und Co-Autor Dr. Mario Hoppmann. „Mit dem Multifrequenz-EM-Gerät konnten wir nicht nur die Dicke des Plättcheneises relativ genau bestimmen. Wir konnten sogar das Eisvolumen der Plättcheneisschicht errechnen, indem wir die Menge des Meerwassers zwischen den Plättchen bestimmt und diese dann subtrahiert haben.“
Um weiträumig Daten zu sammeln, vermaßen die Forscher große Flächen der zugefrorenen Atka-Bucht. Diese Bucht liegt im Weddellmeer, in der Nähe der deutschen Antarktis-Forschungsstation „Neumayer-Station III“. Die Forscher legten das Multifrequenz-EM in ein Kajak, das sie an ein Schneemobil hängten. Mit dem Gespann fuhren sie dann stundenlang und über Wochen hinweg immer wieder über das Meereis der Atka-Bucht. „Wir haben dabei unter anderem festgestellt, dass das Plättcheneis einen Jahresrhythmus hat“, sagt Mario Hoppmann. Im Juni, zu Beginn des antarktischen Winters, sammeln sich unter dem Meereis die ersten Plättchen. Im Laufe des Winters wächst die Schicht, bis sie zum Winterende im Dezember mehrere Meter dick ist und dann im Laufe des Sommers wieder schrumpft.
Die Forscher sind überzeugt, dass die Plättchen im Eisregime der Antarktis eine wichtige Rolle spielen. Immerhin gefriert das saisonale Meereis in der Atka-Bucht im Winter bis auf eine Dicke von durchschnittlich zwei Metern. Die Plättcheneisschicht darunter aber erreicht im Laufe eines Jahres eine Durchschnittsdicke von fünf Metern. An manchen Stellen war sie sogar bis zu zehn Meter dick. Das bedeutet: Eine beträchtliche Menge des Eises liegt in Form von Plättchen vor. „Will man die Situation des antarktischen Eises verstehen und einen möglichen Einfluss des Klimawandels abschätzen, muss man daher künftig wahrscheinlich auch das Plättcheneis stärker berücksichtigen“, sagt Mario Hoppmann.
Wie groß die antarktisweite Bedeutung des Plättcheneises ist, kann man derzeit noch nicht richtig einschätzen. Die neuen Ergebnisse aber geben Anlass zur Hoffnung, dass seine Verteilung und damit auch seine Rolle bald ebenso verstanden werden, wie dies bei seiner Entstehung gelungen ist.
Plättcheneis bildet sich nämlich unter den Schelfeisen der Antarktis, also jenen Teilen der mächtigen antarktischen Eisschilde, die auf dem Meer schwimmen. Der Kreislauf des Plättcheneises beginnt, indem salzreiches Wasser aus dem küstennahen Ozean absinkt, unter das Schelfeis gleitet und dieses an seiner Unterseite langsam anschmilzt. Die Folge: Das süße Schmelzwasser vermischt sich an der Schelfeisunterseite mit dem salzhaltigen Ozeanwasser. An der Meeresoberfläche würde dieser Wassermix auf der Stelle gefrieren, denn seine Temperatur liegt deutlich unter dem normalen Gefrierpunkt. Aufgrund des hohen Wasserdrucks in der Tiefe aber bleibt der Mix zunächst flüssig – Physiker sprechen von einem „potentiell unterkühlten“ Zustand.
Da diese Wassermasse jedoch eine geringere Dichte als das umgebende Meerwasser hat, steigt sie langsam an der Schelfeisunterseite auf. Der Wasserdruck sinkt und sobald eine kritische Wassertiefe erreicht wird, bilden sich an Ort und Stelle winzige Eiskristalle. Diese wachsen schließlich zu jenen filigranen Plättchen heran, die sich dann als Plättcheneis direkt unter dem Meereis sammeln.
Video
Originalpublikation
P. A. Hunkeler, M. Hoppmann, S. Hendricks, T. Kalscheuer & R. Gerdes, 2015: A glimpse beneath Antarctic sea ice: Platelet layer volume from multifrequency electromagnetic induction sounding. Geophysical Research Letters. DOI: 10.1002/2015GL065074 (Open Access)