26. September 2016
Wochenbericht

Leben unter dem Eis am Karasik-Seeberg

Die zweite Woche der Expedition PS101 war der Erkundung des riesigen Karasik-Seebergs gewidmet. Er liegt in der zentralen Arktis, ist über 4000 m hoch, und es wimmelt an ihm von Leben.

Schon beim ersten Tauchgang warteten alle gespannt vor den Bildschirmen an Bord. Ozeanische Seeberge gehören zu den sogenannten „Hotspots“ von Lebensvielfalt im Meer. Sie können durch ihre besondere Form und ihren Einfluss auf Strömungssysteme lokal für Nahrungsreichtum sorgen. Manche von Ihnen sind aktiv und stoßen Gase aus, von denen Bakterien leben. Doch würde auch ein Seeberg in der eisbedeckten, nahrungsarmen, zentralen Arktis von Leben wimmeln? Das sollten die Tauchgänge und Probennahmen der zweiten Woche unserer Expedition PS101 zeigen.

Unser erstes Ziel diese Woche war die Erkundung der Gipfel des Langseth Rückens, der von fast 5000 auf 560 m Wassertiefe aufsteigt und zu dem der Karasik-Seeberg mit dem höchsten Gipfel gehört. Wir konnten dabei die neuen Funktionalitäten des Ocean Floor Observation Systems - kurz OFOS - testen. Das OFOS wird an einem Lichtwellenleiterkabel des Schiffes mit einer Höhe von 2 Metern über den Meeresboden geschleppt oder in Eisdrift bewegt. Neben Lichtquellen und einer hochauflösenden Fotokamera sowie einer HD-Videokamera ist unser OFOS nun zusätzlich mit einem Sidescan Sonar und einem vorausschauenden Sonar ausgestattet. Das hat Vorteile: Während die Kamera einen Streifen Meeresboden von fünf Metern fotografiert, können wir mit dem Sonarsystem auf jeder Seite nochmal 40 Meter mehr kartieren und Objekte und Strukturen von bis zu ca. 20 cm erfassen. Das beschleunigt das Entdecken unbekannter Regionen, denn wir sind hier in einem Gebiet, von dem es noch keine Bilder und nur ungenaue Meeresboden-Karten gibt.

Der Moment, in dem der Meeresboden eines unbekannten Meeresgebietes erstmals auf den Bildschirmen auftaucht, ist einfach wundervoll: man weiß nie, was einen erwartet, außer dass es etwas Neues ist. Bei den ersten Bildern vom Karasik Seeberg trauen wir unseren Augen nicht: der Gipfel ist über und über mit riesigen kugeligen Schwämmen bewachsen, die wir sogar im Sonar erkennen können. Zwischen den Schwämmen liegen zentimeterdicke Matten aus Nadeln und Wurmröhren. Wir haben verschiedene Fischarten beobachten können, die hier nicht zu erwarten waren und einen Blick auf die nördlichsten bisher entdeckten Korallen erhascht. Es tummeln sich große weiße Seesterne, blaue Schnecken, rote Krebse und weiße und braune Muscheln zwischen den Schwämmen.

Die Flanken des Karasik-Seebergs sowie der zwei weiteren Gipfel des Langseth Rücken sind dagegen extrem steil und unbewohnt, sie bestehen aus verwitterten Basaltbrocken, die nur sehr spärlich von Glasschwämmen und Seeanemonen besiedelt sind. An den Ausläufern des Langseth Rückens, der in den Trog des Gakkelrückens ragt, gibt es kaum Sedimentbedeckung.

Die Interaktionen zwischen dem Leben und der extremen Umwelt der arktischen Tiefsee sind ein Fokus unserer Expedition. Dieser zweite Wochenbericht ist also dem Leben tief unter dem Eis gewidmet. Einige der Schwämme von bis zu einem Meter Größe müssen mehrere hundert Jahre alt sein, sie sind an ihren Rändern über und über von Würmern und Moostierchen überwachsen. Schwämme sind einer der ältesten Tierstämme der Erde und man findet sie in allen Meeren – vom tropischen Flachwasser bis zur arktischen Tiefsee. Sie beherbergen eine komplexe Gemeinschaft von speziellen Mikroorganismen – bekannt dafür ist besonders auch die arktischen Geodia-Schwämme, die wir hier häufig finden.

Proben von und um die Riesenschwämme herum erhalten wir durch Kastengreifer und dem Telemetrie-betriebenen Multicorer. Wie die Megafauna, die wir mit der Kamera beobachten können (Organismen >1 cm) ist auch die Makrofauna (Organismen >1 mm) hier im Gegensatz zu den umliegenden Tiefseebecken auf dem Karasik-Seeberg sehr vielfältig. Es gibt Unmengen von Borstenwürmern, Flohkrebsen und Scherenkrebsen sowie Moostierchen. Die Schwämme sowie ihre Mitbewohner leben auf Schichten von Ablagerungen vergangener Gemeinschaften aus Moostierchen, Schwammnadeln und Röhren von Borstenwürmern, die mit mehreren Zentimetern die dünne Sedimentauflage bedeckt. Darunter ist basaltisches Gestein. Uns interessiert einfach alles was hier lebt. Auch die höchstens einen Millimeter großen Tiere, die in den Zwischenräumen zwischen Schwamm und Schlamm vorkommen: winzige Ruderfuß- und Flohkrebse, Fadenwürmer, Asseln, Milben und viele andere mehr. Einige konnten wir sogar hier an Bord bereits unter der Stereolupe (Abb. 3) aussortieren. Bei unserer Reise in die Welt der Kleinstlebewesen bis hin zu den Mikroorganismen von einem Mikrometer Zelldurchmesser, stellen wir fest, dass die größeren Tiere am Seeberg den Mikroben kaum etwas zu fressen übrig lassen. Das Sediment unter den Schwämmen ist extrem nahrungsarm. Wir finden auch keine Hinweise auf Fluidaustritte – das heißt, die Lebensgemeinschaften am Seeberg müssen wohl von abgesunkenem Plankton leben. Denn die Schwämme wie auch die anderen größeren Lebewesen hier sind Filtrierer, d.h. sie nehmen Nahrungspartikel aus der Wassersäule auf. Jedoch ist für uns immer noch unklar woher die Nahrung stammen könnte, um solch hohe Biomassen in der eisbedeckten Arktis zu unterhalten. Wir werden noch einige Untersuchungen durchführen müssen, um das Rätsel der Nahrungsquelle der Seeberg-Lebensgemeinschaften zu lösen, hoffentlich gelingt dies in den kommenden 2 Wochen.

Und auch das Zooplankton über dem Seeberg ist extrem häufig – dafür finden wir kaum Algen und keine Nährstoffe mehr am Ende der produktiven Sommersaison. Das Zooplankton (passiv driftende, 0.2 – 200 mm große Organismen) wird während unserer Expedition mit zwei verschiedenen Geräten untersucht: dem Multinetz und dem LOKI (Lightframe On-sight Key Species Investigations). Das Multinetz besteht aus vielen Netzen (Maschenweite: 150 µm), die es uns erlauben, während eines vertikalen Fangs verschiedene Tiefenstufen vom Meeresboden bis zur Oberfläche zu beproben. Der Zooplankton-Recorder LOKI macht direkt in der Wassersäule Fotos von den Organismen.

LOKI misst gleichzeitig Tiefe, Temperatur, Salzgehalt, Fluoreszenz und Sauerstoffgehalt. Besonders spannend ist dabei für unsere Zooplanktologen die fast unbekannte Fauna nahe des Meeresbodens – und zwar nicht nur am Gipfel des Seeberges, sondern auch in mehreren Kilometern Tiefe im Gakkelrücken. Erste Ergebnisse zeigen, dass das Plankton auch zwischen 2 und 4,8 km sehr divers ist. Die Biomasse und die Individuenzahlen sind in unserem Untersuchungsgebiet dabei höher als je zuvor auf allen anderen Expeditionen von 1995-2015 in die zentrale Arktis beobachtet. Ist dies eine Besonderheit des Gakkelrückens und auf einen Einstrom von atlantischem Wasser zurückzuführen, oder hat es allein etwas mit der Wasserzirkulation im Gebiet von unterseeischen Bergen zu tun? Und stellen die Zooplankter selbst vielleicht eine wichtige Nahrungsquelle für die Schwämme des Seebergs dar? Doch wovon leben sie selbst, wenn kaum Algenwachstum statt findet? Dies sind einige der schwierigen Fragen, die wir während unserer Expedition beantworten möchten.

An der Vertikalverteilung der Calanus-Arten (Copepoden, auch Ruderfußkrebse genannt), die mit 70% den Großteil der Biomasse im Zooplankton ausmachen, können wir sehen, dass die Zooplanktongemeinschaft im September schon langsam in den Überwinterungsmodus übergeht (Abb. 5). Die Calanus-Individuen haben aufgehört zu fressen und wandern derzeit von der Oberfläche in Tiefen zwischen 200 und 1000 m, wo sie die nächsten neun Monate überwintern werden. Während dieser Zeit ernähren sie sich ausschließlich von Fettreserven, die sie sich im Sommer zugelegt haben. Einige Mitfahrer haben sich inzwischen entschlossen, mit Hilfe des Schiffskochs genau dieser Strategie zu folgen.

Unsere Planktologen haben inzwischen über 120 verschiedene Arten gefunden, was bereits mehr als die Hälfte aller bekannten Zooplankter in den Tiefen des Arktischen Ozeans darstellt. Diese Arten werden fotografiert und für genetische Analysen vorbereitet, mit deren Hilfe wir eine Gendatenbank zur arktischen Biodiversität aufbauen wollen.

Eine zentrale Frage, der wir Biologen auf dieser und weiterer Expeditionen in die Polarregionen nachgehen, ist dabei nicht nur wie vielfältig das Leben unter dem Eis ist, sondern auch wie es auf den Klimawandel und den fortschreitenden Rückgang des Meereises reagiert. Auch der Langseth Rücken selbst und der geologische Ursprung seiner Seeberge gibt uns noch Rätsel auf. Sind sie eine tektonische Verwerfung, oder sind es Vulkane? Gibt es noch aktive Fluidaustritte, und wie beeinflusst der Gakkelrücken und seine Seeberge die Hydrographie und das Nahrungsnetz der Arktis. Das wollen wir in den nächsten Wochen erforschen.

Vor genau einer Woche fand der erste Tauchgang statt, seit dem waren wir fleißig und hatten schon fast alle Forschungsgeräte am Meeresboden, im Wasser oder auf dem Eis. Wir haben zwar kein schönes Wetter – es ist entweder neblig, oder es gibt Schneefall und richtig hell wird es nur noch mittags, die Temperaturen liegen bei -1 bis -10°C. Doch die Eisbedingungen sind durchweg gut, was bedeutet, dass wir mit dem Schiff auch bei geringer Geschwindigkeit wendig durch das Eis kommen. Es ist einfach erstaunlich, was die gute alte Polarstern und ihre Crew kann – gerade eben haben wir gezielt Meeresbodenproben aus einem eisbedecktem Gebiet geholt, nicht größer als das Schiff selbst – bei starkem Wind, schneller Eisdrift und in 3000m Wassertiefe. Die letzte Woche war schon mal sehr aufregend und ein guter Start der Expedition – neben der weiteren erfolgreichen Bergung eines FRAM Observatoriums, der Ausbringung von Eisbojen für die internationale Arktisforschung, sowie mehreren Eisstationen haben wir auch den ersten Testtauchgang des NUI-Untereis-Roboters ausgeführt. Der kleine Roboter hatte sich ganz unerwartet gleich zu Beginn des Tauchgangs verselbstständigt und war nur mit vereinter Mühe davon abzuhalten, in einen Dauertauchgang zu gehen. Wir können das verstehen, denn es ist wirklich schön hier unter dem Eis. Gerade haben wir begonnen neben der Forschung an den hohen Seebergen auch ganz tief in den Gakkelrücken zu schauen. Er ist viel aktiver, als es sein Titel der „ultralangsamsten“ Spreizungszone der Erde vermuten lässt. Mehr von den Entdeckungen heißer Quellen im nächsten Wochenbericht.

Von Bord grüßen bei bester Gesundheit die wissenschaftlichen Teilnehmer der Karasik-Expedition ihre Familien, Freunde und Kollegen.

Antje Boetius

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