Wie die Erwärmung der Arktis die Jahreszeiten in Spitzbergen verändert, steht im Fokus des neuen Forschungsprojektes YESSS - Year-round EcoSystem Study on Svalbard. Lebenszyklen, Nahrungssuche und Überwinterung ausgewählter Schlüsselarten beobachtet das aus rund 30 Personen bestehende Team ganzjährig rund um die AWIPEV-Station auf Spitzbergen und führt dazu Experimente durch. Das Bundesforschungsministerium finanziert das am Alfred-Wegener-Institut koordinierte Projekt bis Ende 2026 mit 2,7 Millionen Euro.
Nirgendwo erwärmt sich die Erde so schnell wie in der Arktis. Die dort schmelzenden Gletscher und das schwindende Meereis sind zum ikonischen Bild des Klimawandels geworden. Aber auch die gesamte Entwicklung von Pflanzen und Tieren im saisonalen Jahresverlauf ändert sich, möglicherweise mit gravierenden ökologischen Konsequenzen.
Im Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) trafen sich vom 6.-8. Februar 2024 Forschende von sieben Universitäten und Forschungseinrichtungen zum Kick-off-Meeting für das 40-monatige Polarforschungsprojekt YESSS. Unter Führung des AWI wollen sie die saisonalen Aspekte der Erwärmung in der Arktis erforschen, z.B. Lebenszyklen, Nahrungssuche und Überwinterung. Bislang ist darüber wenig bekannt, weil das Verständnis dieser ökologischen Prozesse überwiegend auf Studien beruht, die im Frühling und Sommer durchgeführt wurden. Das soll sich jetzt ändern: YESSS steht für „Year-round EcoSystem Study on Svalbard“, es geht also um ganzjährige Forschungsarbeiten auf dem arktischen Archipel Spitzbergen. Im Rahmen der Polarstrategie der Bundesregierung finanziert das Bundesministerium für Forschung und Bildung (BMBF) das Vorhaben mit rund 2,7 Millionen Euro.
Beim Klimawandel gilt die Arktis als Hotspot, als eine Art Frühwarnsystem für bevorstehende globale Veränderungen. Denn unter den extremen Bedingungen der Nordpolarmeer-Region verstärken sich die Auswirkungen des Klimawandels. So hat sich hier die Temperatur des Meeres doppelt so schnell erhöht wie in anderen Erdregionen. Ein Stressfaktor für viele Lebewesen: Denn höhere Temperaturen beschleunigen die Prozesse im Körper und führen so zu einem höheren Verbrauch von Ressourcen. Welche Folgen hat das für die Phänologie in der Arktis?
„Bislang gibt es kaum Studien über diese Entwicklungen in dem langen und dunklen arktischen Winter und auch nicht in den nur wenige Tage langen Übergangszeiten im Frühling und Herbst. Hier wollen wir jetzt ganzjährig mit wöchentlichen Messungen neue Erkenntnisse schaffen“, sagt YESSS-Projektleiterin Dr. Clara Hoppe. Die AWI-Biologin war seit 2014 schon zu mehreren Forschungsreisen auf Spitzbergen und auch an der ganzjährigen MOSAiC-Expedition 2019/2020 in der Zentralarktis beteiligt.
Ihr spezielles Forschungsgebiet ist das Phytoplankton, das sind mikroskopisch kleine Einzeller, die durch Photosynthese das Treibhausgas CO2 binden und aus Wasser Sauerstoff produzieren. Phytoplankton ist die Basis des Nahrungsnetzes, daher haben Veränderungen im Phytoplankton Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem. „Wir wollen jetzt erforschen, wie diese Organismen in den dunklen Monaten auf den neuen Stressor erhöhte Wassertemperatur reagieren“, so Clara Hoppe.
Solche saisonspezifischen Experimente zur Temperaturempfindlichkeit sollen auch für weitere Schlüsselgruppen im Nahrungsnetz gemacht werden, für Makroalgen (z.B. Tang), Mollusken (z.B. Muscheln), Echinodermen (z.B. Seeigel) und für Fische (z.B. Kabeljau). Die höheren Wassertemperaturen ziehen schon jetzt Fischarten an, die es früher in der Arktis nicht gab. Ob angestammte Arten dann ausreichend widerstandsfähig sind, ist weitgehend unbekannt. Basierend auf den gewonnenen Daten zur Resilienz gegenüber höheren Temperaturen sowie anderen erfolgreichen Überwinterungsstrategien werden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Ökosystemmodell entwickeln. Es soll potenzielle „Gewinner“ und „Verlierer“ des Klimawandels sowie Temperatur-Kipppunkte zu verschiedenen Jahreszeiten identifizieren. „Miteinander verknüpft können diese verschiedenen Forschungsergebnisse helfen, ökologische Folgen des Klimawandels einzuschätzen“, sagt Clara Hoppe. So soll das YESSS-Projekt strategische Richtlinien für ein nachhaltiges sozio-ökologisches Management ähnlicher arktischer Küstenökosysteme entwickeln und verschiedenen Interessensgruppen (z.B. indigene und lokale Gemeinschaften oder Anrainerstaaten des Arktisches Ozeans, Politik) zur Verfügung stellen.
Die Ausarbeitung dieser Governance-Konzepte und die gesamte Kommunikation des Forschungsprojekts, auch an eine breite Öffentlichkeit, sind bei YESSS in einem eigenen Arbeitspaket zusammengefasst. Dabei werden Fachleute des Ecologic Institute und der NGO constructify.media e.V. die Wissenschaft unterstützen – ein ganz besonderer Ansatz, der auch das BMBF bei der Auswahl des Projekts überzeugt hat.
Nach einer Vorlauf-Phase seit September 2023 und dem Kick-off-Meeting in Bremerhaven sollen die eigentlichen Forschungsarbeiten im Kongsfjord auf Spitzbergen im Sommer 2024 beginnen. In Ny-Ålesund, wo die AWIPEV-Forschungsstation liegt, leben im Winter nur rund 30 Personen. Ein Jahr lang werden dann auch vier Doktoranden und Doktorandinnen für das Forschungsprojekt YESSS dort arbeiten, in Zweier-Gruppen, die sich alle sechs Wochen abwechseln. Vor Ort werden sie wöchentlich Proben nehmen und in unterschiedlichen Experimenten Messergebnisse für das Projekt bereitstellen. Für ihren neuen Job weit nördlich des Polarkreises werden sie in verschiedenen Trainings im AWI und am GEOMAR in Kiel vorbereitet, dazu gehört auch Schutz bei Begegnungen mit Eisbären, bootsbasierte Probennahmen in der Nacht, und ein zweitägiges Medientraining. Denn das Team soll regelmäßig in den sozialen Medien über seinen außergewöhnlichen Einsatz in der Klimaforschung berichten und damit auch ein junges Publikum ansprechen. Zum Projektabschluss Ende 2026 sollen die Projektergebnisse vorliegen und u.a. bei der größten jährlichen Arktis-Konferenz, der Arctic Circle Assembly auf Island, vorgestellt werden.
YESSS Partner:
1 Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven
2 Universität Bremen, Fachbereich Biologie/Chemie & MARUM - Zentrum für Marine Umweltwissenschaften, Bremen
3 Johannes-Gutenberg-Universität Mainz (JGU), FB 10 Biologie, Institut für Molekulare Physiologie, Mainz
4 Universität Hamburg - Institut für Marine Ökosystem- und Fischereiwissenschaften, Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit, Hamburg
5 Universität Konstanz, Limnologisches Institut, Konstanz
6 Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Zoologisches Institut, Kiel
7 GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, Kiel
8 Ecologic Institut gemeinnützige GmbH, Berlin
9 constructify.media e.V., Bremen