Der riesige Thwaites-Gletscher in der Westantarktis schmilzt durch den Klimawandel immer schneller. Kollabiert er ganz, könnte das katastrophale Folgen für den globalen Meeresspiegel und die Stabilität des westantarktischen Eisschildes haben. Im Rahmen eines großen internationalen Kooperationsprojekts wollen Forschende des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar und Meeresforschung (AWI) im kommenden Jahr mit seismischen Wellen unter den Eiskoloss schauen und so die Beschaffenheit des Bodens untersuchen, auf dem der Riese fließt. Die wertvollen Daten werden dann dabei helfen, mit Computermodellen das künftige Schicksal des Thwaites-Gletschers genauer vorherzusagen.
Der gigantische Thwaites-Gletscher in der Westantarktis bedeckt rund 192.000 Quadratkilometer und damit eine Fläche mehr als doppelt so groß wie Österreich. Wie zahlreiche Messkampagnen der letzten Jahre zeigen, ist der Eiskoloss in Folge des Klimawandels beunruhigend instabil geworden. So hat das immer wärmere Meerwasser aus der angrenzenden Amundsen-See den Gletscher so weit unterspült und abgeschmolzen, dass sich die Aufsetzlinie – also die Grenze, an der das Eis noch auf dem Boden aufliegt – seit 1992 um 14 Kilometer ins Landesinnere zurückgezogen hat. Durch Schmelzwasser und abbrechende Eisberge verliert der Thwaites deshalb heute doppelt so viel Eis wie noch vor 30 Jahren und ist zusammen mit seinen westantarktischen Gletschernachbarn derzeit für gut 10 Prozent des globalen Meeresspiegelanstiegs verantwortlich. Ginge das gesamte Eis der Westantarktis verloren, würden die weltweiten Pegel um mehr als drei Meter steigen.
„Damit ist klar, dass die künftige Entwicklung des Thwaites-Gletschers von weltweiter Bedeutung ist“, sagt Prof. Dr. Olaf Eisen, Glaziologe am Alfred-Wegener-Institut. „Für bessere Prognosen müssen wir deshalb die Eigenschaften des Gletschers genau kennen. Dazu gehört auch die Unterseite des Eises. Wie sieht der Boden aus, auf dem der Gletscher sitzt? Ist er hart und felsig oder besteht er aus Sedimenten? Ist das Eis am Boden angefroren oder gibt es dazwischen einen Flüssigkeitsfilm? All das ist entscheidend dafür, wie schnell der Gletscher in Richtung Meer fließt.“
Olaf Eisen und das AWI sind Partner der International Thwaites Glacier Collaboration (ITGC), die unter Leitung der US-Amerikanischen National Science Foundation und dem britischen Natural Environment Research Council den Thwaites-Gletscher erforscht. Im Teilprojekt GHOST (Geophysical Habitat of Subglacial Thwaites) planen er und sein AWI-Kollege Dr. Coen Hofstede derzeit eine Messkampagne, die Informationen über den Untergrund des Eiskolosses sammeln soll. Dazu werden Hofstede und zwei weitere AWI-Mitarbeitende in die Westantarktis reisen und dort mit dem Vibroseis-Verfahren unter das kilometerdicke Eis des Thwaites schauen.
„Wir sind weltweit die Einzigen, die diese Technik in der Antarktis einsetzen können“, sagt Olaf Eisen. Dabei wird ein geländegängiger Buggy auf einer großen Platte als Schlitten über den Gletscher gezogen. Alle 50 bis 100 Meter wird angehalten, dann fährt ein Stempel aus dem Fahrzeug nach unten und versetzt den Boden in Schwingungen. Diese seismischen Wellen wandern durch das Eis des Gletschers und in den Boden darunter. Die Wellen werden dann an bestimmten Schichtgrenzen reflektiert und an der Oberfläche von Geophonen registriert. „Insgesamt sind 480 Geophone zu 60 Kanälen zusammengeschaltet und regelmäßig über ein 1.5 Kilometer langes Kabel – den Streamer – verteilt, den wir hinter dem Buggy herziehen“, erklärt der Glaziologe Coen Hofstede. „Die aufgenommenen Daten erlauben uns dann Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des Bodens unter dem Gletscher.“
Mithilfe der Daten soll im Teilprojekt GHOST unter anderem die Frage geklärt werden, wie sich der Gletscher künftig im Bereich eines bestimmten Bergrückens unter dem Eis verhalten wird, der etwa 70 Kilometer von der aktuellen Aufsetzlinie entfernt im Landesinneren verläuft. Sollte der in Zukunft schneller fließende Gletscher dort wieder abgebremst oder gar gestoppt werden, könnte sich der vollständige Kollaps des Thwaites möglicherweise verzögern.