Mit einem LKW oder Schneemobil über das Meereis zu fahren, ist eine gefährliche Sache. Zumal der Klimawandel die Eisverhältnisse immer unberechenbar macht. Doch in der Arktis ist das oft die einzige Möglichkeit, um überhaupt ans Ziel zu kommen. Mit einem neuen Navigationssystem namens „TransIce Nav“ wollen Alexandra Zuhr und Tabea Rettelbach solche Reisen künftig sicherer machen. Beim renommierten europäischen „Copernicus Masters“-Wettbewerb haben die beiden Potsdamer Wissenschaftlerinnen vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), mit dieser Idee den ersten Preis in der Kategorie „Transport“ gewonnen.
Das Leben in der Arktis ist schon immer hart gewesen. Doch in den letzten Jahren hat der Klimawandel die rund fünf Millionen Menschen im hohen Norden vor neue Herausforderungen gestellt. So sind die Bewohner vieler Gemeinden dort auf Transporte aus dem Süden angewiesen: Lebensmittel, Holz, Treibstoff – das alles kommt mit LKW über Eisstraßen, die über zugefrorene Flüsse und Meeresbereiche führen. „Damit man die gefahrlos benutzen kann, muss das Eis allerdings mindestens 30 Zentimeter dick sein“, erklärt Alexandra Zuhr. Doch die Saison, in der das der Fall ist, wird immer kürzer. Von 200 Tagen pro Jahr ist sie in den letzten vierzig Jahren auf etwa die Hälfte geschrumpft. Da kommt es durchaus vor, dass in manchen Orten der Diesel knapp wird, weil die Zufahrtsstraße nicht rechtzeitig geöffnet werden konnte. Denn per Boot sind viele dieser Gemeinden nur schwer zu erreichen, und ein Transport per Helikopter ist oft zu teuer oder ganz unmöglich.
Doch es sind nicht nur schwere LKW, die mit den Tücken des brüchigen Eises zu kämpfen haben. Auch für Schneemobile werden die Fahrten über den gefrorenen Panzer des Ozeans und der Seen immer gefährlicher. Das trifft die indigene Bevölkerung auf ihren traditionellen Jagdtrips ebenso wie die wachsende Zahl von Menschen, die zu touristischen oder wissenschaftlichen Zwecken in der Arktis unterwegs sind. Immer wieder brechen Schneemobile auch auf Standardrouten im Eis ein, leicht können solche Unfälle tödlich enden. „Mit unserem Navigationssystem TransIce Nav wollen wir deshalb Informationen bieten, die ein sicheres Navigieren auf dem Eis ermöglichen“, erklärt Tabea Rettelbach. „Denn das kann Leben retten.“
Die Forscherin ist Expertin für Fernerkundung und damit auch für die technischen Grundlagen eines solchen Systems. Ihre Kollegin Alexandra Zuhr dagegen rekonstruiert aus Bohrungen im Eis von Grönland das Klima der Vergangenheit. Daher kennt sie die Tücken des Navigierens auf gefrorenem Untergrund aus eigener Erfahrung. Gemeinsam haben die beiden Forscherinnen die Idee für TransIce Nav entwickelt und beim „Copernicus Masters“-Wettbewerb eingereicht (https://copernicus-masters.com/winner/safe-navigation-on-ice-in-polar-regions/).
Dahinter verbirgt sich eine Art Europameisterschaft für kreative Köpfe, die mithilfe von Erdbeobachtungsdaten globale Herausforderungen angehen wollen. Veranstaltet wird das Ganze von Copernicus, dem Erdbeobachtungsprogramm der Europäischen Union. Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur hatte 2020 einen speziellen Teilwettbewerb ausgelobt, der sich mit Lösungen für Transportprobleme beschäftigte. Und in dieser Sparte hat der Vorschlag der beiden AWI-Doktorandinnen am meisten überzeugt.
„Was wir entwickeln wollen, ist eine Art Google Maps fürs Eis“, erklärt Alexandra Zuhr. „Man gibt den Startpunkt und das Ziel ein und bekommt dann die optimale Route angezeigt.“ Jenen Weg also, der sicher und möglichst schnell zum Ziel führt.
Die dafür nötigen Daten liefern die Erdbeobachtungssatelliten der Reihen Sentinel-1 und Sentinel-2. Erstere arbeiten mit Radar und können daher das ganze Jahr über Auskunft über die Ausdehnung und Dicke des Eises geben. Letztere schauen dagegen optisch auf die Erde und liefern daher vor allem über die hellen Sommermonate interessante Informationen. Dazu kommen noch aufbereitete Daten des Copernicus Marine Service, der aus den per Satellit gemessenen Eisverhältnissen, der Meerestemperatur und dem Wind auch die künftig zu erwartende Eissituation berechnet. „So werden wir mit TransIce Nav wohl auch etwa fünf bis sieben Tage in die Zukunft schauen können“, kalkuliert Alexandra Zuhr.
Wer das System nutzt, bekommt dann umfangreiches Kartenmaterial, mit dem er zuhause am Computer schon einmal seine Tour planen kann. „Das ist wichtig, weil man unterwegs ja in der Regel keinen Internet-Zugang hat“, erklärt die Forscherin. Doch auch nach dem Aufbruch werden die Arktis-Reisenden nicht sich selbst überlassen. Dafür sorgt die zugehörige App fürs Mobiltelefon, die Reisende per GPS durch die weiße Weite lotst – und sie warnt, wenn sie sich brüchigen Zonen, der Eiskante oder anderen gefährlichen Stellen nähern.
Da die Satellitendaten eine Auflösung von 50 bis 100 Metern haben, wird TransIce Nav sehr kleine Risse im Eis zwar nicht erkennen können. Doch das System bekommt ein Sicherheitspolster eingebaut. Gebiete, die durch Meeresströmungen instabil zu werden drohen, wird es beispielsweise umfahren. „Trotzdem sollte man die Landschaft schon ein wenig kennen, wenn man es benutzt“, sagt Alexandra Zuhr.
Potenzielle Interessenten aus diesem Personenkreis gibt es genug – von der indigenen Bevölkerung über Tourismusveranstalter bis hin zu in der Arktis tätigen Firmen aus dem Bereich der Öl-, Gas- und Bergbauindustrie. Das gesamte Marktpotential ihrer Idee haben die beiden Forscherinnen auf 800 Millionen Euro kalkuliert, prinzipiell erreichbar wären mit ihrem aktuellen Geschäftsmodell etwa 400 Millionen Euro. „Diese Werte könnten im Zuge des Klimawandels aber durchaus noch ansteigen“, sagt Tabea Rettelbach. Es sind zwar schon andere Systeme auf dem Markt, die das Navigieren im Eis erleichtern. Allerdings sind diese vor allem für Schiffe gedacht und konzentrieren sich deshalb auf die eisfreien Bereiche. Wer über den Panzer des Ozeans will, wäre mit TransIce Nav daher besser bedient.
Daher können sich die beiden Forscherinnen sehr gut vorstellen, ihre preisgekrönte Idee auch tatsächlich in die Praxis umzusetzen. Die 5000 Euro Preisgeld aus dem Wettbewerb werden dazu allerdings nicht reichen. Im ersten Jahr bräuchten die TransIce-Erfinderinnen ihren Berechnungen zufolge eine Anschubfinanzierung zwischen 200.000 und 400.000 Euro für Hardware, IT- und Personalkosten. Dann aber könnte das System nach spätestens einem Jahr einsatzbereit sein. Und bestenfalls Leben retten.