In der Arktis vollzieht sich seit Jahren ein massiver ökologischer Wandel. Viele arktische Fischarten ziehen sich wegen der steigenden Wassertemperaturen immer weiter nach Norden zurück und Arten aus gemäßigteren Breiten tauchen verstärkt vor Grönland oder Spitzbergen auf. Forschende der Universitäten Kiel und Tromsø sowie des Alfred-Wegener-Instituts haben nun die wissenschaftlichen Veröffentlichungen der vergangenen zehn Jahre zu den ökologischen Folgen des Klimawandels in arktischen Meeren analysiert. Ihr Ergebnis: Die Verschiebung der Lebensräume hat ganze Artengemeinschaften erfasst und verändert die arktischen marinen Nahrungsnetze grundlegend. Die Studie wurde jetzt im Fachmagazin Frontiers in Marine Science veröffentlicht.
Der Klimawandel schlägt in der Arktis besonders hart zu. Hier steigen die Temperaturen wegen der „Arktischen Verstärkung“ mehr als doppelt so schnell wie im globalen Durchschnitt. Die marinen Ökosysteme im hohen Norden stehen dadurch unter massivem Druck und die Folgen sind auf zahlreichen Ebenen schon seit Jahren zu beobachten. So verschieben sich die Verbreitungsgebiete der Arten, Wachstum, Stoffwechsel und Verhalten der Organismen ändern sich und ganze Nahrungsnetze wandeln sich grundlegend.
2011 veröffentlichte ein Team um Paul Wassmann von der Universität Tromsø eine erste umfassende Bewertung der Auswirkungen des Klimawandels auf arktische Meeresökosysteme. Nun haben Sören Brandt von der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Paul Wassmann und Dieter Piepenburg vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung ein ausführliches Update vorgelegt.
„Der Klimawandel hinterlässt eine ganze Reihe von deutlichen Fußabdrücken in den marinen Ökosystemen der Arktis“, erläutert Sören Brandt. „Wir haben die wissenschaftlichen Veröffentlichungen der vergangenen 10 Jahre analysiert und dabei Berichte über insgesamt 98 dieser Fußabdrücke gefunden. Wir kommen bei unserer Inventur zu dem Ergebnis, dass sich die meisten der in der Bewertung von 2011 berichteten Auswirkungen bestätigt haben und daher als anhaltende Trends betrachtet werden müssen.“
Vor allem die Verschiebung der Verbreitungsgebiete nach Norden zeigt sich bei zahlreichen Arten, besonders bei Fischen. Arten aus gemäßigteren Breiten wie atlantischer Kabeljau und Schellfisch folgen den steigenden Wassertemperaturen und dringen verstärkt in arktische Gewässer vor. Dort verdrängen sie mehr und mehr arktische Fischarten, die ihren Lebensraum weiter nach Norden verlagern müssen. Ähnliche Effekte sind auch bei Seesternen, Muscheln, Krebstieren, Seevögeln und Walen zu beobachten. „Weil subarktische und boreale Arten von Süden her einwandern, wird der Artenreichtum in den arktischen Meeren zunächst sehr wahrscheinlich noch zunehmen“, sagt Dieter Piepenburg, der auch einer der Hauptautoren des Kapitels über die Polarregionen im 2022 veröffentlichten IPCC-Bericht über die Folgen des Klimawandels war. „Längerfristig könnte die Arktis jedoch auf einen Wendepunkt und somit auf einen Rückgang der Artenvielfalt zusteuern. Denn irgendwann übersteigen Erwärmung und Versauerung in Folge der steigenden CO2-Konzentrationen im Wasser die physiologische Anpassungsfähigkeit der in der Arktis heimischen Arten. Weil sie dann nicht mehr weiter Richtung Norden ausweichen können, verschwinden sie unter Umständen ganz.“
Ein weiterer Entwicklungstrend ist der Anstieg der Primärproduktion in arktischen Meeren. Durch das schwindende Meereis vergrößern sich die Freiwasserflächen. Phytoplanktonalgen können hier verstärkt und saisonal länger wachsen. Damit produzieren sie eine größere Biomasse, die sich durch die gesamte Nahrungskette hindurch auswirkt und etwa bei den Grönlandwalen zu einer messbar besseren körperlichen Verfassung führt. Solche dominoartigen Kaskaden-Effekte – sogenannte sekundäre Fußabdrücke – wurden in dem 2011 veröffentlichten Übersichtsartikel noch nicht ausdrücklich berücksichtigt und machen deutlich, wie tiefgreifend sich der Klimawandels in der Arktis auswirkt. „Trotz dieser zum Teil auch positiven Effekte des Klimawandels ist jedoch klar, dass sich in arktischen Meeren ein massiver Umbruch vollzieht, der sich künftig wohl noch weiter beschleunigen wird“, sagt Dieter Piepenburg. „Und längerfristig werden dabei die besonders kälteangepassten arktischen Arten eindeutig zu den Verlierern gehören.“
Originalpublikation
Sören Brandt, Paul Wassmann & Dieter Piepenburg (2023) Revisiting the footprints of climate change in Arctic marine food webs: An assessment of knowledge gained since 2010. Frontiers in Marine Science 10:1096222. DOI: https://doi.org/10.3389/fmars.2023.1096222