10. Februar 2022
Online-Meldung

Starke Gletscherschmelze belegt veränderte Windströmung in der Arktis

AWI-Forschende beweisen zunehmenden Einfluss von Warmluft aus mittleren Breiten auf arktische Gletscher
Schmelzendes Gletschereis (Foto: René Bürgi)

Gletscher in Nordkanada und auf Spitzbergen haben in den letzten zwanzig Jahren zusammen jährlich ca. 44 Milliarden Tonnen Eis verloren. Die Eisschmelze in diesen Regionen wurde bisher durch starke Westwindströmungen beeinflusst. Unter Federführung des Alfred-Wegener-Instituts hat nun ein Team aus internationalen Forschenden den vermehrten Einstrom von Kaltluft aus dem Norden und Warmluft aus dem Süden, wechselseitig in beiden Regionen, festgestellt. Verursacht durch die anhaltende globale Erderwärmung könnten diese Schwankungen der Luftströmungen auch langfristige Konsequenzen für das Wetter in Mitteleuropa haben.

Für die in der Fachzeitschrift Nature Climate Change veröffentlichte Studie haben Forschende unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) die Eisverluste der Gletscher in Nordkanada und auf Spitzbergen von 2002 bis 2021 berechnet. Sie kommen dabei auf einen jährlichen gemeinsamen Eisverlust von ca. 44 Milliarden Tonnen in diesen Regionen. Das entspricht etwa einem Fünftel der Massenverluste in Grönland für denselben Zeitraum. Insgesamt trugen alle Gletscher weltweit im Zeitraum 2005-2017 etwa einen Zentimeter zum globalen Meeresspiegelanstieg bei.

Grundlage der Berechnungen sind Auswertungen von Satellitenbeobachtungen der NASA- und GFZ-Mission GRACE-FO sowie von Modelldaten. Diese wurden im Anschluss mit Simulationen von regionalen Klimamodellen verglichen, die darauf spezialisiert sind, Schneefall und Schmelzen der Gletscher abzubilden. Dabei stellten die Forschenden zusätzlich fest, dass das Gletschereis in Nordkanada und Spitzbergen zwar kontinuierlich aber nicht gleichmäßig schmilzt: „Seit 2003 bedeutete in 15 von 17 Jahren ein besonders starker Eisverlust in Spitzbergen einen schwächeren Verlust in Nordkanada und umgekehrt. In der Rekonstruktion mit Modelldaten bis 1948 ist dieses Phänomen in dieser Häufigkeit einmalig“, sagt Ingo Sasgen, AWI-Glaziologe und Leitautor der Studie.

Die Eismassenbilanz eines Jahres wird in diesen Regionen vorrangig durch die Schmelzverluste in den Sommermonaten dominiert. Das Forschungsteam fand heraus, dass vor dem Jahr 2000 starke Westwindströmungen beide Gebiete gleichermaßen beeinflussten, diese aber seitdem abgeschwächt sind. Dadurch können Kaltluft aus der Arktis und Warmluft aus den südlichen Breiten einen stärkeren Einfluss nehmen. „Heute ist der Einstrom von warmer Luft aus den mittleren Breiten für das Schmelzen im Sommer entscheidend“, erläutert Annette Salles, Forscherin der Universität Belfast und Koautorin der Studie. „Je nach Jahr begünstigen diese Muster entweder das Schmelzen in Nordkanada oder aber auf Spitzbergen“, ergänzt sie.

Die Ursachen für die Änderung der atmosphärischen Zirkulation ist Gegenstand intensiver Forschung. „Es gibt einige Kandidaten, die als wahrscheinliche Ursache in Frage kommen, aber das Puzzle ist noch längst nicht gelöst. Wir wissen, dass der dramatische Rückgang des Meereises und die Abnahme der Schneebedeckung in den letzten Dekaden die arktischen Breiten sehr stark erwärmt hat“, erklärt Martin Wegmann, Koautor der Studie von der Universität Bern. Das führt dazu, dass die Arktis sich momentan mehr als doppelt so schnell erwärmt als der globale Durchschnitt. „Diese überproportionale Erwärmung verringert den Temperaturunterschied zwischen Arktis und mittleren Breiten, was Einfluss auf die großskalige Zirkulation und Höhenwinde haben kann.“ Die Konsequenzen daraus sind auch für die Ausprägung von Wetterlagen in Mitteleuropa zu erwarten.  
 

Originalpublikation:

Ingo Sasgen, Annette Salles, Martin Wegmann, Bert Wouters, Xavier Fettweis, Brice P. Y. Noel and Christoph Beck: Arctic glaciers record wavier circumpolar winds. Nature Climate Change, 10.02.2022, DOI: 10.1038/s41558-021-01275-4

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