Grönlands Gletscher verlieren immer schneller Eis und lassen so den Meeresspiegel stark ansteigen. Wieviel Eis bis zum Ende des Jahrhunderts tatsächlich verloren gehen könnte, wird von Klimamodellen bisher jedoch deutlich unterschätzt. Das legt eine neue Studie in der Fachzeitschrift Nature nahe, an der auch das Alfred-Wegener-Institut beteiligt war. Die Folge: Der Beitrag von Grönlands Gletschern zum zukünftigen Anstieg des Meeresspiegels ist deutlich höher, als bisher angenommen.
Bis 2100 könnte der Nordostgrönländische Eisstrom den Meeresspiegel um bis zu 15,5 Millimeter ansteigen lassen – sechsmal so viel wie Klimamodelle bisher voraussagen. Das hat ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) herausgefunden. In einer aktuellen Studie wertete die Gruppe GPS-Daten eines Messnetzes am nordostgrönländischen Eisstroms aus, das eine Fläche abdeckt, die bis zu 200 Kilometer ins Landesinnere reicht. Die Region befindet sich stromaufwärts von Nioghalvfjerdsbræ und Zachariae Isstrøm und ist für Expeditionen schwer zugänglich. Diese GPS-Daten kombinierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Höhenmessungen der Satellitenmission CryoSat-2 und hochauflösenden numerischen Modellierungen. „Mit unserer langjährigen Expertise in der Prozessierung von CryoSat-2 Daten konnten wir hier einen wesentlichen Beitrag liefern“ berichtet Dr. Veit Helm, Experte für Satellitenaltimetrie am AWI.
„Unsere Messungen zeigen, dass sich die starken Höhenänderungen, die wir an der Gletscherfront beobachten sich weit bis ins Landesinnere des Eischildes auswirken.
Wir konnten sehen, dass die Eisdicke im gesamten Gebiet geringer wird und sich gleichzeitig der Eisstrom beschleunigt. Jedes Jahr haben sich die von uns untersuchten Gletscher weiter ins Landesinnere zurückgezogen, und wir gehen davon aus, dass sich dies in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten fortsetzen wird. Unter den gegenwärtigen klimatischen Bedingungen ist es schwer vorstellbar, wie dieser Rückzug gestoppt werden könnte“, sagt Erstautor Shfaqat Abbas Khan, Professor an der Technischen Universität Dänemark (DTU Space).
Mit den bisherigen Modellen ließ sich nur schwer abschätzen, wie viel Eis Grönlands Gletscher verlieren und wie weit ins Innere des Eisschilds dieser Prozess reicht. Denn das Inlandeis ist für Beobachtungen nur schwer zugänglich, so dass genaue Prognosen nur begrenzt möglich sind. Mit der Kombination aus Fernerkundung, in-situ-Beobachtung und Modellierung konnten die Forschenden in ihrer Studie nun zeigen, wie sich der nordostgrönländische Eisstrom nicht nur an seinem Rand, sondern auch weit in seinem Inneren verändert. „Die enge Verknüpfung dieser drei Ansätze ermöglicht große Fortschritte und ist der Schlüssel, um Gletscher, ihre Dynamik und ihre Auswirkung auf den Meeresspiegel realistisch in Modellen abzubilden“, sagt Co-Autorin Prof. Angelika Humbert, Glaziologin am AWI.
Das AWI führt seit vielen Jahren viele in-situ und flugzeuggestützte Beobachtungen am Zachariae Isstrøm und seinem Nachbarn Nioghalvfjerdsbræ durch, um wichtige Informationen über die Entwicklung der Gletscher zu sammeln. So können sie Datenlücken schließen und robustere Simulationen zur Dynamik der Gletscher ermöglichen.
Originalpublikation
Shfaqat Abbas Khan, et. Al.: Extensive inland thinning and speed-up of North-East Greenland Ice Stream. Nature (2022). DOI: 10.1038/s41586-022-05301-z