In gut zwei Jahren wird das Forschungsschiff Polarstern zu einer abenteuerlichen Expedition aufbrechen. Ein Jahr lang soll es festgefroren im Eis quer durch die Arktis driften. Wissenschaftler wollen dabei neue Erkenntnisse über den Klimawandel gewinnen. Auf der amerikanischen Wissenschaftskonferenz AAAS in Boston wurde das Projekt jetzt erstmals einer breiten Öffentlichkeit präsentiert.
Mehr als 120 Jahre sollten vergehen, bis sich eine Forschercrew ein zweites Mal an dieses Abenteuer wagt. 1893 war es der norwegische Polarforscher Friedtjof Nansen gewesen, der sich mit seinem Forschungsschiff Fram im arktischen Eis einfrieren ließ. Er wollte damals den Nordpol mithilfe der natürlichen Eisdrift erreichen, die er vermutete. Für drei Jahre war sein Schiff im Eis gefangen. Den Nordpol querte es zwar nicht. Auch der Versuch, diesen auf Skiern und mit Schlittenhunden zu erreichen, scheiterte. Und dennoch gilt diese Expedition bis heute als eine der mutigsten und erfolgreichsten zugleich.
Schon bald will eine Expedition in diese historischen Fußstapfen treten. 2019 startet das deutsche Forschungsschiff Polarstern in Richtung Sibirische See, um sich für ein ganzes Jahr im nördlichen Eis einfrieren zu lassen und mit der Drift die zentrale Arktis zu durchqueren. Dass das möglich ist, ist eine der wichtigen Erkenntnisse der Fram-Expedition ihres Vorgängers Friedtjof Nansen. Heute geht es freilich um mehr als darum, den Nordpol zu erreichen. Das Forscherteam unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar -und Meeresforschung (AWI) will das arktische Klima so umfassend wie nie zuvor untersuchen. Bisher sammelten die Forscher dazu ihre Daten vor allem im arktischen Sommer. Die gewagte Expedition soll ihnen nun die Möglichkeit geben, dies auch im arktischen Winter zu tun. Das ist nicht nur wichtig, um die Arktis besser zu verstehen, sondern auch die hochkomplexen Klimaprozesse auf dem gesamten Globus.
„Wir verzeichnen eine besonders starke Erwärmung der Arktis und einen dramatischen Rückgang des Eises", sagt Markus Rex vom AWI. „Aber diese Prozesse sind bislang nur unzureichend verstanden. Von diesen Daten erhoffen wir uns grundlegende neue Erkenntnisse über den globalen Klimawandel", so Rex, der dieses internationale Projekt vom Potsdamer Standort des AWI aus koordiniert. Jetzt hat er es in Boston auf der amerikanischen Wissenschaftskonferenz AAAS erstmals einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt.
Entwickelt wurde die Expedition unter dem Schirm des International Arctic Science Committee. Sie trägt den Titel MOSAiC - ein Akronym für: Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate. Mehr als 60 Millionen Euro wird sie voraussichtlich kosten. Das Geld kommt von rund einem Dutzend Polarforschungs-Organisationen und anderen Geldgebern aus aller Welt. „Und ist gut angelegt", sagt Rex. „Unsere Forschung wird dazu beitragen, einen Quantensprung in der Klimaforschung zu ermöglichen."
„Während der einjährigen Expedition wird der Schwerpunkt darauf liegen, unzählige Messungen und Experimente vor Ort durchzuführen." Die Forscher wollen das komplexe Zusammenspiel von Ozean, Eis, Atmosphäre und Ökosystem besser verstehen. Dazu bauen sie ein ganzes Netzwerk von Stationen in einem Umkreis von circa 50 Kilometern rund um die Polarstern auf dem Eis auf. In diesen Camps werden kleine Forschergruppen aufwendige Messungen durchführen, teils von Helikoptern versorgt. Sie treiben dann quasi neben dem Forschungsschiff mit. „Das wird schon eine logistische Herausforderung werden", glaubt Rex.
„Wir werden alles messen, was das Herz eines Klimaforschers begehrt", sagt Markus Rex. Ein Fokus liegt auf dem Meereis und den Prozessen, die zur seiner Bildung führen. Ebenfalls wichtig für das Verständnis von Klimaprozessen und noch schlecht verstanden ist der Energiefluss zwischen dem Meer und der Atmosphäre. „Mit den Ozeanströmen wird im großen Umfang Energie aus den warmen Breiten in die Arktis transportiert. Hier gelangt sie durch kleine Verwirbelungen in Ozean und Atmosphäre und durch Risse im Meereis auch in die Atmosphäre und beeinflusst die Energiebilanz der Arktis entscheidend", sagt Rex. Schließlich interessieren sich die Forscher auch für die Transport- und Deformationsprozesse im Meereis während des Winters und die Schmelzprozesse im Frühling.
„Was macht der Krill im Winter unter dem Eis?", fragt Rex und antwortet sich selbst: „Auch das wissen wir bislang nicht genau. Wir wissen zwar, dass Krill und Plankton überwintern und es mit Aufbrechen des Eises im Frühjahr zu großen Planktonblüten in der Arktis kommt." Aber was passiert genau und was könnte passieren, wenn sich das Eis noch stärker zurückziehe? Es gebe eben viele Prozesse, die man mit einem Satelliten nicht beobachten könne, etwa welche Art Plankton in einem Schmelztümpel schwimmt oder wie die kleinstskaligen Strömungen in der atmosphärischen Grenzschicht sind. Die Liste der Fragen, die die Wissenschaftler haben, ließe sich seitenlang weiterführen. Bis zum Start der Expedition in zweieinhalb Jahren wird sie sicherlich noch länger werden.
Auf welcher Route die Polarstern die Arktis genau durchqueren wird, weiß niemand. Das können die Forscher auf statistischer Basis lediglich annäherungsweise vorhersagen. Möglich sind verschiedene Routen. Wenn alles gut geht, kommen sie im Jahr 2020 zwischen Spitzbergen und Grönland wieder aus dem Eis heraus. Problematisch könnte es werden, wenn die Polarstern zu weit nach Nordgrönland abdriftet. „Dort käme sie allein nicht wieder raus", sagt Markus Rex und betont, dass dieses Risiko durch eine sorgfältige Modellierung und Auswahl des Startpunktes für die Drifttrajektorie minimiert wird. Aber driften heiße eben driften. Die Motoren der Polarstern sind auf der abenteuerlichen Reise ausgeschaltet. Das Schiff liegt festgefroren im massiven Eis. „Und wir sind dann auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, wie das Eis driftet. Damit müssen wir leben. Wenn uns das nicht gefällt, können wir uns darüber ärgern, aber wir müssen mit."
Rex wird am Beginn der Reise dabei sein und dann ein zweites Mal im Frühjahr 2020. Alle Wissenschaftler werden wohl zwei bis drei Monate vor Ort bleiben. Fünf bis sechs Mal soll die gesamte Crew während des einjährigen Projekts ausgewechselt werden. Russische Langstreckenhelikopter fliegen sie ein - über ein auf Bolschewik-Island eigens eingerichtetes Depot von Helikoptertreibstoff. Partnereisbrecher werden auch die Polarstern selbst gelegentlich mit frischem Treibstoff versorgen. Denn auch im eingefrorenen Standby-Modus verbraucht das Forschungsschiff 15 Tonnen Treibstoff am Tag - allein um zu heizen und um die elektronischen Systeme am Leben zu halten.
Diese werden auch die ersten Forschungsergebnisse nach Potsdam übermitteln. "Wir gehen davon aus, dass wir schon während der Drift wichtige Ergebnisse erzielen werden", sagt Markus Rex. Publikationen erwartet er dann zeitnah - und damit vor allem ein deutlich verbessertes Verständnis unseres globalen Klimasystems.
Dieser Text erschien zuerst bei helmholtz.de, Autor: Roland Koch