Die Nordsee im Wandel

Kaum ein Meer wird vom Menschen so intensiv genutzt wie die Nordsee. Unzählige Containerriesen durchqueren sie und bringen Tag für Tag Handelswaren aus Übersee nach Rotterdam, Antwerpen und Hamburg. Unmengen von Gas und Öl werden aus dem Meeresboden gepumpt und stillen den Energiehunger Europas. Und Massen von Heringen und Köhlern werden aus der Tiefe gefischt, um als Matjes und Seelachsfilets den europäischen Speiseplan zu bereichern. Trotz alledem ist die Nordsee noch immer eine artenreiche Schatzkiste der Natur. Schweinswale, Robben, mehr als 230 Fischarten und Millionen von Seevögeln nutzen die Nordsee und ihre Küsten als Lebensraum und Rastgebiet. In ihrem süd-östlichen Randgebiet ist das UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer das Kronjuwel. Doch vor allem durch den Klimawandel ist das Meer vor unserer Haustür in einen beispiellosen Umbruch geraten.

Viel mehr als nur ein Randmeer

Die Nordsee ist ein flaches Schelfmeer, das auf drei Seiten von Land umschlossen ist. Geographisch gilt die Nordsee als kleines Randmeer des Atlantiks. Doch sie ist viel mehr als nur ein Anhängsel. Sie ist ein wahrer Hot-Spot menschlicher Nutzung. So ist das kleine Meer umgeben von acht hochindustrialisierten Staaten mit rund 80 Millionen Menschen, die im Küstenbereich leben. Drei der weltweit größten und wichtigsten Seehäfen – Rotterdam, Antwerpen und Hamburg – liegen an der Nordsee, die zu den verkehrsreichsten Meeren überhaupt gehört. Dazu kommt eine intensive Ausbeutung der Ressourcen. Öl und Erdgas werden seit den 1970er Jahren auf unzähligen Bohrinseln aus dem Nordseeboden gefördert – vor allem vor der britischen und norwegischen Küste. Große nationale Fischereiflotten holen zudem jährlich etwa zwei Millionen Tonnen Fisch aus dem Meer. Seit den 1990er Jahren werden außerdem mehr und mehr Offshore-Windkraftparks vor den Küsten der Nordseeanrainer errichtet. Und nicht zuletzt bildet auch intensiver Tourismus eine wichtige Säule in der Wirtschaft der Küstenländer. All das bleibt jedoch nicht folgenlos. Die brummenden Containerriesen machen die Nordsee zu einem der lautesten Meere weltweit. Der Unterwasserlärm macht dabei vor allem Meeressäugern wie den Schweinswalen zu schaffen. Über die Flüsse gelangen zudem große Mengen Schadstoffe aus den Industriestaaten in die See. Dazu kommen Probleme wie Überfischung, Massentourismus und die Folgen des Klimawandels. 

Täglicher Check: Wie geht es der Nordsee?

Seit mehr als 50 Jahren messen AWI-Forschende an jedem Werktag die Temperatur, den Salz- und Nährstoffgehalt sowie die Trübung des Wassers vor der Nordseeinsel Helgoland. Diese einmalige Langzeitdatenreihe ist ein international anerkannter Gradmesser für den Zustand der Nordsee und zeigt eindrucksvoll, wie sich das Meer durch den Klimawandel graduell verändert. Aus den Daten geht hervor, dass sich das Wasser seit 1962 im Jahresmittel um 1,7 Grad Celsius erwärmt hat. Dieser Temperaturanstieg hat dabei erhebliche Folgen für die Meeresorganismen und ganze Lebensgemeinschaften. So hat die Artenvielfalt rund um die Insel in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen. Diese Entwicklung zeigt sich dabei auf allen Ebenen – vom Phyto- und Zooplankton über Fische bis hin zu den Lebensgemeinschaften am Meeresboden. Allein hier am Nordseegrund haben die AWI-Wissenschaftler:innen in den vergangenen 25 Jahren 60 neue Tierarten gezählt, die es hier zuvor nicht gab. Viele dieser Arten sind aus wärmeren, südlicheren Regionen eingewandert und fühlen sich infolge der steigenden Temperaturen zunehmend auch in der Nordsee heimisch. Dazu zählen unter anderem Fische, die man vor allem mit dem Mittelmeerraum in Verbindung bringt: Sardinen (auch bekannt als Anchovis), Sardellen und Streifenbarben. Es gibt aber nicht nur eine Bereicherung des Arteninventars der Nordsee, denn einige Arten leiden unter den Veränderungen. Heimische Fische wie der Kabeljau mögen es kühl, sie ziehen sich aus der Nordsee zurück und wandern ins kältere Europäische Nordmeer aus. 

Zahlen und Fakten

1,7

Grad Celsius

Die Nordsee rund um Helgoland hat sich seit 1962 um 1,7 Grad Celsius erwärmt.

2.000.000

Tonnen

Derzeit werden pro Jahr 2.000.000 Tonnen Fisch in der Nordsee gefangen.

4

Millimeter

Seit 1993 steigt der Meeresspiegel in der gesamten Nordsee um durchschnittlich 4 Millimeter pro Jahr.

FAQ

Bedroht der globale Meeresspiegelanstieg das Wattenmeer der Nordseeküste?

Weltweit steigen die Pegel der Ozeane und Meere in Folge des Klimawandels – weil an den Polen und in Gebirgsregionen Eis schmilzt und weil sich wärmeres Wasser ausdehnt. Dieser Anstieg macht auch vor der Nordsee nicht Halt und diese ist durch den etwa 1000-jährigen Deichbau an der Küste auch in ein enges Korsett geschnürt, das dem Meer kaum mehr Platz bietet. Seit Beginn der Satellitenmessungen 1993 schwellen die Pegel im Schnitt um vier Millimeter pro Jahr – allerdings mit großen regionalen Unterschieden. Grund dafür sind unter anderem Meeresströmungen und Windmuster. Grundsätzlich kann das Watt zu einem gewissen Grad mit dem Anstieg mitwachsen, weil Ebbe und Flut regelmäßig Sedimente an der Küste ablagern. Überschreitet der Meeresspiegelanstieg jedoch eine gewisse Rate, die bei etwa drei bis vier Millimetern pro Jahr liegt, könnten sich regelmäßig trockenfallende Wattflächen in dauerhaft mit Wasser bedeckte Lagunen verwandeln. Zwar können die Auswirkungen kleinräumig sehr unterschiedlich sein, aber zahlreichen Watt- und Salzwiesenbewohnern – darunter unzählige See- und Zugvögel – droht dadurch ein Verlust an Lebensraum und Futterplätzen.

Wie wirkt sich der Klimawandel auf Krankheitserreger in der Nordsee aus?

Bei Wassertemperaturen von 20 Grad Celsius und darüber fühlen sich nicht nur Badegäste in der Nordsee wohl. Denn ab dieser Wärmeschwelle vermehren sich auch einige Bakterien geradezu explosionsartig – darunter der gefährliche Krankheitserreger Vibrio vulnificus. Gelangt dieser dann versteckt in roh verzehrten Austern oder beim Baden und Barfußlaufen über offene Wunden in den menschlichen Körper, wird es gefährlich. Die Folge ist eine Lebensmittel- oder gar eine Blutvergiftung. Die Zahl von Vibrio-Wundinfektionen hat seit den 1990er Jahren an den Küsten Nordeuropas stetig zugenommen und ist während langer Hitzeperioden und bei einer Wassertemperatur von mehr als 25 Grad Celsius besonders hoch. Insofern wird die fortschreitende Erwärmung der Nordsee diesen Trend aller Voraussicht nach verstärken.

Wie verändert sich die Artenvielfalt im Watt?

Auch an der Küste im Wattenmeer vollzieht sich ein Umbruch. Es gibt inzwischen mehr als 100 neue Arten wie die Pazifische Auster. Die meisten dieser Spezies sind allerdings nicht selbst eingewandert, sondern wurden durch den Schiffsverkehr aus weit entfernten Regionen eingeschleppt oder vom Menschen zu Zuchtzwecken eingeführt. Auch sie mögen es warm und fühlen sich bei den steigenden Temperaturen immer wohler. Sie treten mit heimischen Organismen in Wechselwirkung, wodurch ganz neue Beziehungsgeflechte entstehen. Die Zunahme der Artenvielfalt in Folge des Klimawandels ist also ein Zeichen für eine massive Verschiebung der Lebensräume, die längst noch nicht abgeschlossen ist. Dabei ist unklar, ob einige Fisch-, Muschel- und Krebsarten auf Dauer ganz aus der Nordsee verschwinden oder sich an die neuen Bedingungen anpassen können.

Was ist das AWI-Nordseebüro?

Das AWI-Nordseebüro forscht zu spezifischen Umweltthemen in der Nordsee und vermittelt wissenschaftliche Ergebnisse an Behörden, Politik, Umweltverbände und die Öffentlichkeit. Die Nordsee ist ein einzigartiger Naturraum, aber auch eine bedeutende Wirtschaftsregion. Daraus bilden sich Nutzungskonflikte und in Verbindung mit dem globalen Klimawandel entsteht die Notwendigkeit zur Entwicklung von Managementstrategien, um die Meeresumwelt nachhaltig nutzen und schützen zu können. Hier bringt sich das AWI-Nordseebüro spezifisch ein, um Lösungsansätze zu entwickeln. Zurückgreifen kann das AWI dabei auf Langzeituntersuchungen, die an den Standorten Bremerhaven, Helgoland und Sylt seit Jahrzehnten die Veränderungen der Nordsee dokumentieren. In der Kombination mit umfangreichem Expert:innenwissen aus zahlreichen Forschungsprojekten sind die Wissenschaftler:innen des AWI damit in der Lage nationale und europäische Fachgremien zu beraten. Gemeinsam mit Politik und Umweltschutzverbänden entwickelt das AWI-Nordseebüro Strategien für einen umweltverträglichen Umgang mit einer sich verändernden Nordsee und trägt damit beispielsweise zum Schutz des UNESCO-Weltnaturerbes Wattenmeer bei.

Wie entwickelt sich das Seegras in der Nordsee?

Seegras ist eine Pflanze, die Wurzeln und Rhizome bildet, mit denen sie sich fest im Boden verankert und so wie ein Rasen große Flächen dicht bewachsen kann. Es wächst in vielen flachen, sandigen Küstengewässern, zu denen auch das Wattenmeer in der Nordsee gehört. Seegrasbestände sind als Küstenlebensräume ausgesprochen wichtig. Viele kleine Wattbewohner wie Schnecken und Krebse nutzen das dichte Blattwerk als sicheres Versteck und auch junge Fische können hier Schutz vor Feinden finden. Einige Fischarten heften ihre Eier an Seegrasblätter und nutzen die Wiese so als Laichgebiet. Zugvögeln dient Seegras als Nahrung und sie füllen hier ihre Energiereserven für die weitere Wanderschaft auf. Küstenvögel nutzen Seegraswiesen als Jagdrevier und durchstreifen sie regelmäßig auf der Suche nach Beute. Außerdem halten Seegraswiesen mit ihrem Wurzelgeflecht den Wattboden fest und die Seegrasblätter kämmen feine Sedimente aus dem Wasser, die sich dann in der Wiese ablagern. Darüber hinaus filtert Seegras Nährstoffe aus dem Wasser und nimmt Kohlendioxid auf, was dauerhaft im Boden gespeichert werden kann. Mehrere Jahrzehnte ist im deutschen Wattenmeer nur sehr wenig Seegras gewachsen. Eine stark erhöhte Zufuhr an Nährstoffen machte dem Seegras zu schaffen. Die vielen Nährstoffe führten unter anderem dazu, dass große Algen sich so stark vermehrt haben, dass sie Seegraspflanzen überdeckt und unter sich erstickt haben. Inzwischen haben sich die Bestände jedoch im nördlichen Wattenmeer wieder sehr gut erholt. Ein Grund ist die verbesserte Wasserqualität, die primär dadurch erreicht wurde, dass der Eintrag von Phosphat und Stickstoff reduziert wurde. Leider beschränkt sich die Erholung der Seegrasbestände auf die Gebiete, die weit von großen Flussmündungen entfernt liegen. Auch wenn die Nährstoffmengen verringert wurden, sind sie nach wie vor zu hoch, was die Seegrasbestände in unmittelbarer Nähe von großen Flussmündungen immer noch belastet. Das Positive ist jedoch, dass die Entwicklung gezeigt hat, dass sich so wichtige Küstenlebensräume erholen können, wenn ihre Verschmutzung gestoppt wird.

Ist der Unterwasserwald vor Helgoland bedroht?

Auf dem felsigen Meeresboden rund um Helgoland wächst ein Unterwasserwald: ein etwa zwei Meter hohes Dickicht aus Tang, in dem mehr als 200 Tier- und Algenarten Lebensraum, Schutz und Nahrung finden. Die sogenannten Kelpwälder haben einen grundlegenden Unterschied zu bekannteren Ökosystemen wie den Korallenriffen: Kelp wächst am besten bei kühleren Temperaturen zwischen fünf und 15 Grad Celsius. Die Erwärmung im Zuge des Klimawandels bedroht nun diese Oase der Vielfalt. Klettert zum Beispiel die Wassertemperatur im Sommer über die 18-Grad-Grenze, werden Fortpflanzungszellen geschädigt und die Fortpflanzungskapazität verringert sich. Klettert die Wassertemperatur über 20 Grad Celsius, stellt der Tang seine Fortpflanzung zeitweise sogar ganz ein. Gleichzeitig sterben die oberen Bestände des bei Niedrigwasser gut sichtbaren Kelpwaldes ab. Gleichzeitig gibt es eine positive Veränderung: Weil sich die Strömungen verändern und mehr atlantisches Wasser in die Nordsee gelangt, wird das Wasser vor Helgoland klarer. Dadurch gelangt mehr Licht in die Tiefe und der Kelpwald kann sich in tieferem Wasser ausbreiten. Neuere Studien zeigen, dass dieser Ausbreitungsprozess bisher ungebrochen ist. Allerdings sagen diverse Modellierungsstudien voraus, dass bei fortschreitender Erwärmung des Meerwassers im Sommer der Unterwasserwald vor Helgoland, so wie wir ihn derzeit kennen, verschwinden wird.

Wie kann in der deutschen Nordsee Aquakultur betrieben werden?

Die Fischbestände gehen weltweit zurück und Fischer fangen immer weniger Fische im Meer. Bereits jetzt stammen 50 Prozent der Fische und Meeresfrüchte sowie 96 Prozent der Algen aus Aquakultur-Haltung. In Deutschland ist küstennahe Aquakultur in der Nordsee nur eingeschränkt möglich: Zum einen ist das Wattenmeer ein Nationalpark und damit ein Schutzgebiet. Hier dürfen nur extraktive Organismen gezüchtet werden, also solche, die ihre Nahrung und Nährstoffe selber aus der Wassersäule entnehmen und somit nicht gefüttert werden müssen. Dazu zählen Miesmuscheln, Austern und Makroalgen. Eine gute Alternative ist die gemeinsame Nutzung der Offshore-Windparks weit draußen im Meer. Auf diesen Flächen werden die Windräder zur Energiegewinnung genutzt und in der sogenannten Open Ocean Aquakultur können Muscheln und Algen heranwachsen. Wissenschaftler.innen des Alfred-Wegner-Instituts forschen derzeit daran, wie eine derartige Nutzung nachhaltig gestaltet werden kann. Es wird untersucht, welche Algen und Muscheln sich eignen, welche Technologien robust genug sind, um unter den harschen Wetterbedingungen durch Welle und Strömung standzuhalten, wie eine solche Kultur betrieben werden kann und wie viele Zuchtflächen für welche Art gebraucht werden, um diese im Offshore-Bereich der Nordsee umweltfreundlich und wirtschaftlich kultivieren zu können. 

Kontakt

Portraitfoto von Dr. Matthias Brenner

Matthias Brenner

Dr. Matthias Brenner, Experte für Altlasten und Munition im Meer
Portraitfoto von Dr. Christian Buschbaum

Christian Buschbaum

Meeresökologe Dr. Christian Buschbaum, Experte zum Thema Küstenforschung
Portraitfoto von Meeresbiologin Dr. Bernadette Pogoda

Bernadette Pogoda

Biologin Dr. Bernadette Pogoda, Expertin für Meeresnaturschutz und Wiederansiedlung der Europäischen Auster in der Nordsee