Das Forschungsschiff Polarstern wird am Freitagabend, den 13. Oktober 2017 nach gut fünf Monaten aus der Arktis in seinen Heimathafen Bremerhaven zurückkehren. Letztes Forschungsgebiet war der sogenannte 79-Nord-Gletscher im Nordosten Grönlands. Dort haben Wissenschaftler an Bord untersucht, wie sich die seit etwa zwanzig Jahren steigende Ozeantemperatur vor dem Gletscher auf dessen Eismassen auswirkt.
Es ist ein ganz besonderes Gebiet, das die 45 Wissenschaftler an Bord des Forschungsschiffes Polarstern in den letzten Wochen erforscht haben: Der 79-Nord-Gletscher im Nordosten Grönlands. Zusammen mit dem benachbarten Gletscher namens Zachariæ Isstrøm führt er die Eismassen des nordostgrönländischen Eisstroms ins Meer ab, einem Gebiet, das etwa 16 Prozent der Fläche des grönländischen Eisschildes entspricht. Der 79-Nord-Gletscher weist eine 80 Kilometer lange schwimmende Eiszunge auf – ähnlich den Schelfeisen in der Antarktis. Darunter liegt eine Kaverne, die mit Meerwasser gefüllt ist.
Langzeituntersuchungen des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) haben gezeigt, dass das Atlantikwasser in der Framstraße (am Übergang des Europäischen Nordmeeres zum Nordpolarmeer) in den letzten zwanzig Jahren um etwa ein Grad wärmer geworden ist. Weiterhin zeigen die Daten, dass sich diese Erwärmung auch auf den grönländischen Schelf mit dem dort einströmenden Atlantikwasser bis hin zum 79-Nord-Gletscher ausgedehnt hat. Warmes Wasser kann Gletscher von unten abschmelzen. Der Zachariæ Isstrøm hat seine Gletscherzunge vor wenigen Jahren verloren und die AWI-Forscher wollen jetzt durch see- und landseitige Messungen untersuchen, ob dem 79-Nord-Gletscher dasselbe widerfährt. Das könnte in der Zukunft durchaus passieren, da wärmeres Umgebungswasser zu einem erhöhten Abschmelzen führen würde. Aber auch dynamische Effekte (veränderte Fließgeschwindigkeiten) wirken sich auf die Dicke des Gletschers aus. Ziel ist es, die dahinterliegenden Mechanismen besser zu verstehen.
„Durch unsere Messungen im Ein- und Ausstrombereich direkt vor der Kaverne wollen wir beobachten, in welcher Menge warmes Wasser in die Kaverne einströmt, und wie viel Wärme dem Wasser für das Schmelzen von Eis verloren geht“, erläutert Prof. Dr. Torsten Kanzow, AWI-Ozeanograph und Leiter der Expedition. Dafür hatten er und sein Team im vorigen Jahr Verankerungen mit Messsensoren direkt vor der Gletscherkaverne aber auch an anderen Schlüsselstellen für die Zirkulation von Atlantikwasser auf dem grönländischen Schelf ausgelegt. So wollen die Forscher der Zirkulation des Atlantikwassers von der Framstraße über den weiten Schelf Nordostgrönlands hinweg bis hin zum Gletscher nachspüren. Sie wollen herausfinden, wie stark diese Zirkulation ist und welchen zeitlichen Schwankungen sie unterliegt.
„Wir können aus unseren Messungen nun zeigen, dass während der gesamten Zeit seit dem Sommer letzten Jahres kontinuierlich relativ warmes Wasser unter den Gletscher eingeströmt ist“, sagt Torsten Kanzow. Dabei sei die Strömung aber nicht konstant gewesen, sondern zeitlichen Schwankungen unterworfen. Der Ozeanograph erläutert: „Warum beispielweise Ende 2016 die Strömung auf einmal zunahm, ist uns noch nicht klar, spricht aber dafür, dass der Auslöser hierfür eher außerhalb der Kaverne zu suchen ist.“ Auch im Bereich des Zustroms auf dem mittleren Schelf hatten die Ozeanographen in ihren Messdaten zeitweise ungewöhnlich warmes Atlantikwasser entdeckt. „Inwiefern dieses dann auch in den Gletscher einströmt, können wir noch nicht sagen – diese computergestützten Untersuchungen werden wir erst in Bremerhaven vornehmen können“, sagt Torsten Kanzow.
Um die kleinräumige Zirkulation vor dem Gletscher genau zu untersuchen, kam auch das autonome Unterwasserfahrzeug (AUV) der AWI-Tiefseegruppe zum Einsatz. Durch seine Manövrierfähigkeit ist es ideal geeignet, ozeanographische Messungen im Bereich unmittelbar vor dem Gletscher durchzuführen, der von komplizierter Bodentopographie mit vielen kleinen Untiefen und Gräben geprägt ist. Das AUV kann engmaschige Kurse abfahren und Daten liefern, die zeigen, wie die kleinräumige Vermischung des Wassers direkt vor der Kalbungsfront abläuft, das in die Kaverne ein- und aus ihr ausströmt.
Schon im Frühsommer 2017 hatten AWI-Glaziologen begonnen, den Gletscher unter die Lupe zu nehmen. Dazu sind sie mit einem Helikopter an 50 verschiedene Stationen geflogen und haben die Eiszunge mit einem Radar vor Ort vermessen. Außerdem haben sie vier autonome Stationen ausgebracht, die ihre Daten über einen längeren Zeitraum übermitteln. Einige der Stationen wurden während der aktuellen Polarstern-Expedition mit Hilfe der Bord-Helikopter nun erneut vermessen. Im Jahr 2018 ist eine zweite Kampagne zu den Messstationen geplant. Aus den Unterschieden der Radarmessungen der beiden Jahre lässt sich dann die Schmelzrate der Eiszunge an der Unterseite bestimmen. Die AWI-Glaziologen kombinieren diese direkten Messungen mit Satellitendaten und können so untersuchen, welche Rolle das Schmelzen an der Unterseite des Gletschers beim Massenverlust Grönlands spielt.
„Sehr spannend war ein Tauchgang unseres AUV direkt vor dem Gletscher, denn dort war dichtes Eis und es ist dem Geschick der Besatzung zu verdanken, dass es wieder sicher geborgen werden konnte“, stellt Torsten Kanzow eine Besonderheit der Expedition heraus. „Außerdem war in diesem September der Winter schon deutlich zu spüren,“ vergleicht der Fahrtleiter die Bedingungen mit seiner letztjährigen Expedition, die schon im August stattfand. „Die massive Neueisbildung vor der Küste machte uns bei unseren Arbeiten zu schaffen. Geräte, die mit Meerwasser in Berührung kamen, froren uns ein. Spannend waren die Verankerungsaufnahmen in teilweise dichtem Eis und Nebel, bei denen sich wieder einmal gezeigt hat, wie sehr unser Erfolg auf die außergewöhnlichen Erfahrungen und Fähigkeiten der Mannschaft von Polarstern angewiesen ist,“ spricht er seinen Dank für die Crew aus.
Die Polarstern war am 24. Mai 2017 in Bremerhaven zur diesjährigen Arktissaison ausgelaufen. Auf vier verschiedenen Abschnitten war das Forschungsschiff vor allem rund um die Inselgruppe Spitzbergen unterwegs, bevor die letzte Expedition jetzt bis nach Nordostgrönland führte. Bis kurz vor Weihnachten wird das Schiff in der Bremerhavener Lloydwerft liegen und dort unter anderem eine neue Wellengeneratoranlage und einen frischen Unterwasseranstrich bekommen, bevor es Richtung Antarktis ausläuft.