Im Nordosten Grönlands befindet sich der 79° N-Gletscher. Er formt die heute größte schwimmende Eiszunge Grönlands, die allerdings stark von der Klimaerwärmung bedroht ist: Warmes Wasser aus dem Atlantik lässt die Zunge von unten her abschmelzen. Forschende des Alfred-Wegener-Instituts haben nun jedoch herausgefunden, dass die Temperatur des Wassers, das in die Kaverne des Gletschers fließt, zwischen 2018 und 2021 abgenommen hat, obwohl sich der Ozean in der Region im Verlauf der letzten Jahrzehnte nachweislich immer mehr erwärmt hat. Grund hierfür könnten temporär veränderte Luftströme in der Atmosphäre sein. Wie sich diese auf den Ozean auswirken und was das für die Zukunft der grönländischen Gletscher bedeuten könnte, beschreiben die Forschenden in der Fachzeitschrift Science.
In den letzten Jahrzehnten hat der grönländische Eisschild immer mehr seiner Masse und damit auch an Stabilität verloren. Hauptursache ist die Erwärmung der Atmosphäre und der Ozeane, die das Schmelzen der Eismassen beschleunigt, was zunehmend zum Anstieg des mittleren globalen Meeresspiegels beiträgt. Alleine der nordostgrönländische Eisstrom, der den massiven Nioghalvfjerdsfjorden Gletscher speist, auch bekannt als 79° N-Gletscher, könnte den globalen Meeresspiegel um gut einen Meter steigen lassen, wenn er komplett abschmilzt.
Unter der Gletscherzunge befindet sich eine Kaverne, in die Ozeanwasser einfließt. Messungen des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) haben nun ergeben, dass die Temperatur des Wassers, das in die Kaverne fließt, zwischen 2018 und 2021 abgenommen hat. „Die abrupte Abkühlung hat uns überrascht, denn sie steht im krassen Gegensatz zu der langfristigen regionalen Ozeanerwärmung, die wir im Zustrom zum Gletscher gemessen haben“, sagt Dr. Rebecca McPherson, Wissenschaftlerin am AWI und Hauptautorin der Studie. „Dass das Ozeanwasser in der Gletscherkaverne kälter wird, bedeutet, dass in diesem Zeitraum weniger ozeanische Wärme unter das Eis transportiert wurde. Das führt wiederum dazu, dass der Gletscher weniger schnell abschmilzt.“
Doch woher kommt das kalte Wasser unter dem Gletscher, wenn die Temperatur des Ozeans um ihn herum immer weiter steigt? Um das herauszufinden haben die AWI-Forschenden über fünf Jahre lang zwischen 2016 und 2021 Daten gesammelt, mithilfe einer ozeanographischen Verankerung. Diese Messplattform zeichnete kontinuierlich Eigenschaften wie die Temperatur und die Strömungsgeschwindigkeit des Ozeanwassers an der Kalbungsfront des 79° N-Gletschers auf, dort wo das Wasser in die Kaverne fließt. Während die Temperaturen des Atlantischen Wassers zu Beginn der Messungen zunächst kontinuierlich bis auf einen Höchstwert von 2,1 Grad Celsius im Dezember 2017 anstiegen, sanken sie jedoch ab Anfang 2018 um 0,65 Grad ab.
„Wir konnten den Ursprung dieser temporären Abkühlung zwischen 2018 und 2021 stromaufwärts in die Framstraße und das weite Europäische Nordmeer zurückverfolgen“, erklärt Rebecca McPherson. „Das heißt, dass sich Veränderungen in den Zirkulationen dieser entfernten Meeresregionen direkt auf das Schmelzen des 79° N-Gletschers auswirken können.“ Dass sich die Wassertemperatur in der Framstraße abgekühlt hat, liegt an atmosphärischen Blockierungen. Bei diesen zwingen stationäre Hochdruckgebiete in der Atmosphäre die normalerweise vorherrschenden Luftströmungen zum Ausweichen. Das ist auch über der Framstraße passiert: Mehrere atmosphärische Blockierungswetterlagen über Europa verstärkten, dass kalte Luft von der Arktis durch die Framstraße ins Europäische Nordmeer hineinströmt. Dies bremste das Wasser aus dem Atlantik ab, das Richtung Arktis strömte und sich so auf seinem Weg stärker als normal abkühlte. Dieser abgekühlte Wasserkörper strömte dann durch die Framstraße zum grönländischen Kontinentalschelf und den 79° N-Gletscher. Es dauerte zwei bis drei Jahre von dem Auftreten der Blockierungslagen in der Atmosphäre bis zum Einströmen des kühleren Wassers aus dem Atlantik in die Gletscherkaverne.
„Wir gehen davon aus, dass atmosphärische Blockierungslagen auch in Zukunft ein wichtiger Faktor für mehrjährige Abkühlungsphasen des Europäischen Nordmeers bleiben werden“, so Rebecca McPherson. „Sie schaffen die atmosphärischen und ozeanischen Bedingungen, welche die Temperaturvariabilität des atlantischen Ozeanwassers beeinflussen, die sich auch auf die Gletscher Nordostgrönlands auswirkt.“ Denn dieser nordwärts strömende Wasserkörper fließt nicht nur weiter in die Arktis, wo er die Ausdehnung und Dicke des Meereises beeinflusst. Etwa die Hälfte des Wassers biegt bereits in der Framstraße nach Westen ab, wo es das ozeanbedingte Schmelzen der grönländischen Gletscher kontrolliert. „Wir werden im Sommer 2025 mit dem Forschungseisbrecher Polarstern zum 79° N-Gletscher zurückkehren. Wir wissen bereits, dass die Wassertemperaturen in der Framstraße wieder leicht zugenommen haben und sind gespannt zu sehen, ob sich dadurch das Abschmelzen des Gletschers verstärkt hat.“
Um das Schicksal des 79° N-Gletschers in der Zukunft besser vorhersagen zu können, ist es wichtig zu verstehen, was die Veränderungen im Gletscher antreibt, wie Rebecca McPherson betont: „Unsere Studie liefert neue Erkenntnisse über das Verhalten der Gletscher Nordostgrönlands in einem sich verändernden Klima. Dadurch können Prognosen für den Anstieg des Meeresspiegels verfeinert werden.“ Ihr Kollege Prof. Torsten Kanzow vom AWI ergänzt: „Insgesamt verstehen wird den Warmwassereinstrom in die Kaverne des 79° N-Gletschers als einen Teil der Atlantischen Meridionalen Umwälzzirkulation (AMOC). Prognosen legen nahe, dass sich dieses Wärmeförderband in der Zukunft abschwächen könnte. Es wir eine wichtige Herausforderung sein, langfristige Beobachtungssysteme zu etablieren, welche die Auswirkungen der großräumigen Ozeanzirkulation bis hinein in die Fjorde Grönlands erfassen können.“
Originalpublikation
Rebecca Adam McPherson, Claudia Wekerle, Torsten Kanzow, Monica Ionita, Finn Ole Heukamp, Ole Zeising, Angelika Humbert, Atmospheric blocking slows ocean-driven melting of Greenland’s largest glacier tongue, Science. 2024. DOI: 10.1126/science.ado5008