12. Juni 2013
Pressemitteilung

Die genetische Vielfalt macht’s: Forscher entschlüsseln Genom und Erfolgsgeheimnis der Kalkalge Emiliania huxleyi

Bremerhaven, den 12. Juni 2013. Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, haben gemeinsam mit einem internationalen Forscherteam das Genom der Kalkalge Emiliania huxleyi entschlüsselt und dabei eine Erklärung für die enorme Anpassungsfähigkeit und Verbreitung dieses Einzellers gefunden. Wie die Forscher in einer Online-Vorabveröffentlichung des Fachmagazins Nature berichten, punktet die Mikroalge mit genetischer Vielfalt. Sie besitzt ein besonders großes sogenanntes Pan-Genom. Das heißt, die Einzeller teilen nur einen gewissen Stammsatz identischer Erbinformationen miteinander. Der Rest des Genpools variiert stark und hängt vom Ort und den jeweiligen Lebensbedingungen der Algen ab. Die Kalkalge ist die erste Alge, bei der Wissenschaftler diese Besonderheit nachweisen konnten.

Sie misst gerade mal fünf Tausendstel Millimeter. Die Form ihres Panzers aus dünnen Kalkschilden erinnert an einen Fußball. Dennoch gehört die kalkbildende Mikroalge Emiliania huxleyi zu den interessantesten Lebewesen unserer Ozeane. Ohne kalkbildende Mikroalgen wie sie gäbe es zum Beispiel weder die beeindruckenden Kreidefelsen von Dover (England) noch jene auf Rügen. Beide Naturwunder sind nichts anderes als riesige Kalkschuppen-Halden solcher Algen.

Ohne „Ehux“ wie Emiliania huxleyi von Wissenschaftern liebevoll genannt wird, wäre es vermutlich auch deutlich wärmer auf der Erde. „Die kalkbildenden Mikroalgen wirken dem Klimawandel entgegen. Auf Langzeitskalen betrachtet, entziehen sie durch ihre Photosynthese und beim Bau ihrer Kalkschuppen der Atmosphäre erhebliche Mengen Kohlenstoff und binden diesen“, sagt der Biologe und Mitautor der Studie Dr. Uwe John vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI).

Ihn und seine Kollegen begeistert die Mikroalge jedoch vor allem durch eine weitere Eigenschaft: „Ehux kann sich an nahezu alle Lebensbedingungen im Meer anpassen. Sie kommt in fast allen Regionen der Ozeane vor – in Äquatornähe ebenso wie in kühleren Breiten, auch bei uns in der Nordsee. Aus welchem Grund sie dazu in der Lage ist, verstehen wir aber erst jetzt“, sagt AWI-Algenforscher Dr. Klaus Valentin.

Uwe John, Klaus Valentin und ihre AWI-Kollegen Prof. Dr. Stephan Frickenhaus und Dr. Sebastian Rokitta sind vier von 75 Wissenschaftlern aus den USA, Deutschland, Kanada, Frankreich, Großbritannien, Belgien und Chile, denen es jetzt gemeinsam gelungen ist, das Genom der Kalkalge Emiliania huxleyi zu entschlüsseln. „Das Genom ist in gewissem Sinne die Festplatte eines Organismus. Auf ihr sind alle Eigenschaften codiert – wie er aussieht, wie er sich anpassen kann, wie er mit anderen konkurriert. Wenn wir die Daten auf dieser Festplatte kennen, können wir sehr viel darüber erfahren, was dieser Organismus alles kann und wie er auf Veränderungen, zum Beispiel im Zuge des Klimawandels reagiert“, so Klaus Valentin.

Das Genom der Mikroalge hielt für die Wissenschaftler eine große Überraschung parat. „Das Ehux-Genom ist unglaublich variabel. Vergleicht man zum Beispiel die Erbinformation zweier Menschen miteinander, findet man eine Übereinstimmung von 99 Prozent. Nehmen wir jedoch zwei Ehux-Stämme aus verschiedenen Meeresregionen, stoßen wir auf einen Übereinstimmungsgrad von gerade mal 70 oder 80 Prozent. Der Rest des Genoms unterscheidet sich. Das bedeutet, die Algen besitzen alle einen bestimmten Grundsatz an Genen, der abhängig vom Lebensraum der Algen durch unterschiedliche Gene ergänzt wird, also im gewissen Maße austauschbar ist. In der Fachwelt bezeichnen wir so etwas als ‚Pan-Genom’, das bis zu unserer Studie nur bei Bakterien bekannt war. Jetzt haben wir es erstmals für eine Kalkalge nachgewiesen“, sagt Uwe John.

Diese genetische Vielfalt erkläre auch die große Anpassungsfähigkeit der Kalkalgen. „Ehux kann fast überall leben, denn die Gesamtheit aller Erbinformationen dieser Art ist im Vergleich zu anderen Einzellern riesig und vermutlich der Grund, warum es ihr gelingt, sich schnell an alle möglichen Bedingungen anzupassen und in nahezu allen Meeren dieser Welt erfolgreich zu sein. Ein Beispiel: Wenn Ehux blüht, dann oft in so großer Zahl und über eine Meeresfläche von Tausenden Quadratkilometern, sodass diese Algenblüten als milchig-weißer Schleier sogar aus dem Weltraum zu sehen sind“, ergänzt Klaus Valentin.

Ermöglicht wurden diese neuen Erkenntnisse durch eine enge internationale Zusammenarbeit der Forscher. Während die Wissenschaftler vom US-amerikanischen Department of Energy Joint Genome Institute im kalifornischen Walnut Creek das Genom des Ehux-Stamms CCMP1516 nahezu komplett sequenzierten, übernahmen die deutschen Biologen und Bioinformatiker die Sequenzierung von 13 weiteren Stämmen aus verschiedenen Regionen der Welt. Im Anschluss daran ermittelten die AWI-Forscher gemeinsam mit Kollegen von der Ruhr-Universität Bochum, der Universität zu Köln, der Hochschule Bremerhaven, dem Leibniz-Institut für Alterungsforschung, dem Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei sowie dem Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig in Vergleichs- und Detailuntersuchungen die Funktion einzelner Gene oder Gengruppen.   

Bei ihrer Arbeit im Labor und am Großrechner identifizierten die Forscher unter anderem Gruppen von Genen, die der Kalkalge erlauben, in Wasser mit geringem Phosphor-, Eisen- oder Stickstoffgehalt zu gedeihen. Ein anderes Gen-Set stellt sicher, dass Ehux auch bei außergewöhnlich hoher Sonneneinstrahlung keinen Schaden nimmt. Uwe John: „Diese große genetische Vielfalt wird es der Alge hoffentlich auch erlauben, mit den gegenwärtigen Veränderungen der Meere wie zum Beispiel mit dem Anstieg der Wassertemperatur und des Kohlendioxidgehaltes fertig zu werden.“

Die vielen Genom-Daten bieten den AWI-Wissenschaftlern nun die Grundlage für weiterführende Detailuntersuchungen. „Wir wollen verstehen, auf welche Weise genau die Mikroalge auf die veränderten Lebensbedingungen reagiert. Dazu führen wir zum Beispiel Genexpressionsstudien durch, die zeigen, wie die zunehmende Versauerung des Ozeans die Stoffwechselprozesse im Innern der Alge beeinflusst“, sagt Uwe John.

Einen Einblick in diesen Teilbereich der Ehux-Genom-Forschung am Alfred-Wegener-Institut bietet Sebastian Rokittas Video-Einführung „Die Auswirkungen der Ozeanversauerung auf die Kalkalge Emiliania huxleyi“ auf dem AWI-Youtube-Kanal.  

 

Glossar:

Emiliania huxleyi

Emiliania huxleyi ist eine einzellige, kalzifizierende Mikroalge aus der Gruppe der Haptophyta (Gattung Coccolithophorida), die zum Beispiel mit Kieselalgen und Braunalgen verwandt ist. Sie erreicht einen Durchmesser von fünf- bis zehntausendstel Millimeter (0,005 – 0,01 mm) und ist damit achtmal kleiner als ein menschliches Haar im Durchmesser misst. Ihre Zellwand ist bedeckt mit einem Panzer aus Calcid-Scheibchen, der sie vor äußeren Einflüssen schützt.

Emiliania huxleyi kommt in allen Ozeanen der Welt vor, mit Ausnahme der sehr kalten Polarmeere. Die Alge tritt vor allem zur Blütezeit im Frühling und Sommer in sehr großen Mengen auf und bildet in dieser Zeit einen wesentlichen Teil des Meeresplanktons. Vor allem in dieser Zeit zählt sie zu den wichtigsten Primärproduzenten im Ökosystem Ozean.

Wissenschaftler interessieren sich für Emiliania huxleyi, weil sie bei der Photosynthese und bei der Bildung ihres Kalkpanzers Kohlenstoff bindet. Stirbt die Alge ab, sinken die Algenreste in die Tiefe. Etwa fünf Prozent dieser herabsinkenden Masse erreichen den Meeresboden und lagern sich dort ab, wodurch der gebundene Kohlenstoff dem globalen Kreislauf für mehrere Tausend Jahre entzogen wird. In Fachkreisen wird deshalb von einer „organischen Kohlenstoffsenke“ gesprochen. Eine ausführliche Artbeschreibung finden Sie hier: 

 

Hinweise für Redaktionen:

Die Studie ist unter folgendem Originaltitel im Online-Portal des Fachmagazins Nature erschienen:

Betsy A. Read et al: Pan genome of the phytoplankton Emiliania underpins its global distribution, Nature,  DOI: 10.1038/nature12221

 

Ihre wissenschaftlichen Ansprechpartner am Alfred-Wegener-Institut sind:

Die Zweitautorin und ehemalige AWI-Wissenschaftlerin Dr. Jessica Kegel erreichen Sie momentan am Laboratoire Arago im französischen Banyuls-sur-Mer. Ihre E-Mailadresse lautet: kegel(at)obs-banyuls.fr

 

In der Abteilung Kommunikation und Medien steht Ihnen Sina Löschke (Tel: 0471-48 31-20 08, E-Mail: medien(at)awi.de) für Rückfragen zur Verfügung.

 

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Das Alfred-Wegener-Institut forscht in der Arktis, Antarktis und den Ozeanen der mittleren und hohen Breiten. Es koordiniert die Polarforschung in Deutschland und stellt wichtige Infrastruktur wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen in der Arktis und Antarktis für die internationale Wissenschaft zur Verfügung. Das Alfred-Wegener-Institut ist eines der 18 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands.