Meereisbiologie

Unter den Schollen tobt das Leben

Die Unterseite des arktischen und antarktischen Meereises ist ein sehr spezieller Lebensraum. Hier gedeihen rund 1000 verschiedene Algenarten, denen Kälte und Lichtmangel wenig ausmachen. Sie sind Nahrung für Kleinkrebse und somit die Basis für die Nahrungsnetze in den polaren Meeresgebieten. Die AWI-Forscher Ilka Peeken und Hauke Flores erforschen die Zusammenhänge zwischen dem Eis und den verschiedenen Lebewesen im Detail – auch um einschätzen zu können, inwieweit die Klimaerwärmung diese Lebensräume verändert.

Junge Polardorsche sind kaum länger als ein menschlicher Finger und damit eine leichte Beute für größere Fische. Die Larven und Jungfische überleben nur, wenn sie sich verstecken; und das beste Versteck in ihrer arktischen Heimat ist das Meereis. Zu Millionen verbergen sich die Jungtiere in den Lücken und Spalten unter den Eisschollen, denn das Meereis ist an seiner Unterseite nicht glatt wie das Eis auf einem Dorfteich. Im Gegenteil! Es bildet ein Labyrinth aus Höhlen, Tälern und scharfen Graten. Mal schieben sich diese übereinander, mal verkanten sie und ragen als meterbreite Eistafeln senkrecht ins Wasser. Anderswo entstehen an der Eisunterseite Terrassen.

Die Polardorsche finden in dieser zerklüfteten Eiswelt nicht nur Unterschlupf. Sie gehen hier auch auf die Jagd, denn an der Unterseite des Meereises gedeihen Algen und ungezählte Floh- und Ruderfußkrebse krabbeln umher. In einem gewissen Sinne gleicht das Meereis einem von Kleinlebewesen dicht besiedelten Boden – mit dem Unterschied, dass hier alles auf dem Kopf steht.

Meeresforscher haben erst zu einem Teil verstanden, wie das Nahrungsnetz unter dem Eis funktioniert. Weil die Unterseite des Packeises schwer zugänglich ist, gibt es nur wenige Beobachtungen von Polardorschen oder anderen Fischen. Erst in den letzten Jahren, seit Unterwasserroboter und spezielle Fangnetze unter dem Eis eingesetzt werden, können die Wissenschaftler die Nahrungsnetze langsam entwirren. Zu welchen Zeiten der Polardorsch unter dem Eis frisst und welche Organismen dort auf seinem Speiseplan stehen, das weiß bislang niemand ganz genau. Auch das Wissen über eine andere polare Schlüsselart, den Antarktischen Krill, ist fragmentarisch. Der Krebs ähnelt der Nordseegarnele und gilt als Grundnahrungsmittel der Pinguine, Robben und Wale des Südpolarmeeres. In den Gewässern der Antarktis nimmt er demzufolge eine ebenso zentrale Rolle ein, wie der Polardorsch im Arktischen Ozean.

Wer frisst hier wen?

„Wir stehen ganz am Anfang“, sagen die AWI-Meereisökologen Hauke Flores und Ilka Peeken, die gemeinsam daran arbeiten, die Nahrungsnetze, das Fressen und Gefressen werden unter dem Eis, zu verstehen. „Wir möchten beispielsweise herausfinden, welche Algen für die Nahrungsnetze von Bedeutung sind und auch wie sich die Nahrungsnetze mit dem Klimawandel verändern könnten“, so Ilka Peeken. Voraussetzung dafür ist, dass die Forscher nicht nur die Arten bestimmen, welche unter dem Eis leben, sondern auch ihre Biologie begreifen.

Vom Polardorsch vermuten die AWI-Wissenschaftler, dass die Jungfische ihre ersten ein bis zwei Lebensjahre unter dem Meereis in der zentralen Arktis verbringen und sich dort wahrscheinlich von Floh- und Ruderfußkrebsen ernähren. Erst im dritten Lebensjahr schwimmen die Fische dann Richtung Küste, wo sie sich den ausgewachsenen Dorschen anschließen. Ein Verhaltensmodell für die Zukunft? „Bisher können wir nicht absehen, was passiert, wenn das arktische Eis weiter abschmilzt“, sagt Hauke Flores. Wird sich der Lebensraum des Polardorsches dadurch verkleinern? Vergrößert sich damit der Abstand zu den Beständen der Alttiere an der Küste in einem kritischen Maße?

Es gibt Theorien, die besagen, dass der Polardorsch nicht ganz so stark ans Eis gebunden sei. Demnach suchen nur jene Tiere das Eis auf, die im Herbst im freien Wasser keine Nahrung mehr finden. „Nach dieser Theorie würde der Polardorsch mit dem schwindenden Eis zurechtkommen“, sagt Hauke Flores. „Allerdings bleibt zu befürchten, dass konkurrierende Fischarten aus dem Süden - wie beispielsweise der Kabeljau - weiter in den Lebensraum des Polardorsches eindringen und ihm die Nahrung streitig machen.“

Ohne Meereis geht nichts

Die Eisdecke des Arktischen Ozeans ist ein wichtiger Pfeiler des Meereslebens. Sein Gefrieren und Schmelzen bestimmt, ab wann und wie lange Eisbären auf dem Eis Robben jagen können. Dieselbe Zeit bleibt Floh- und Ruderfußkrebsen, sich an der Schollenunterseite mit Eisalgen satt zu fressen. Die wohlgenährten Krebstiere wiederum dienen als Futter für Polardorsche, denen Robben, Seevögel und Wale nachstellen. Wenn im Sommer die Eisfläche schmilzt, verschwindet auch die Speisekammer der Untereis-Arten. Dafür dringt Sonnenlicht in die obere Wasserschicht. Freiwasser-Algen beginnen zu wachsen, sinken ab und versorgen auf diese Weise die Lebewesen der Tiefsee mit Nahrung.

Überleben im Halbdunkel

Doch ganz gleich, ob dem Polardorsch das schwindende Eis zum Nachteil gereicht oder nicht, die zentrale Rolle für das Überleben in der Arktis und Antarktis spielen die sogenannten Eisalgen - also Algen, die im Meereis und an dessen Unterseite leben. Was macht sie so besonders? AWI-Biologin Ilka Peeken: „Wie überall auf der Welt gibt es auch in den arktischen und antarktischen Gewässern Algen, die als Phytoplankton frei im Wasser schweben. Solange aber ein Eispanzer auf dem Wasser treibt, fehlt diesen Arten ausreichend Licht, um zu wachsen. Eislagen jedoch kommen im Halbdunkel unter dem Eis bestens zu recht.“

Wie Farne, die im Schatten der Bäume im Wald gut wachsen können, genügt den einzelligen Eisalgen bereits wenig Licht. Jede von ihnen kann sich alle zwei Tage teilen. So wächst eine Algenmenge von ursprünglich 200 Gramm in vier Tagen zu einem Kilo Algen heran. Geballt bilden sie an der Unterseite des Eises regelrechte Algenteppiche; ein idealer Fraßplatz für Flohkrebse, Ruderfußkrebse, Krill und andere Tiere.

Das Leben im Halbdunkel des Eises hat für die Eisalgen aber auch Vorteile. Zwar gibt es unter den Eisschollen von Arktis und Antarktis nur wenig Licht – wenn, dann jedoch in relativ gleichbleibenden Mengen. Denn anders als das Phytoplankton im eisfreien Wasser werden die Eisalgen nicht durch Strömungen oder Wellenspiel in die dunkle Tiefe gezogen.

Die Eisalgen kleben allerdings nicht nur an der Schollenunterseite. Die AWI-Forscher finden sie auch direkt im Meereis, in winzigen Porengängen und Kanälen, die entstehen, wenn das Meerwasser gefriert. Bilden sich die ersten Eiskristalle, schließen diese das im Wasser enthaltene Salz nicht mit ein. Es sammelt sich stattdessen zwischen den Eiskristallen, bildet die besagten Gänge und Kanäle und sickert am Ende an der Eisunterseite ins Meer.

Doch wie gelangen die Eisalgen in diese Solekanäle? Sie heften sich schon beim ersten Gefrieren in den Solekanälen fest und trotzen dann sowohl den extrem kalten Temperaturen als auch dem hohen Salzgehalt. Zum Vergleich: Die Meereis-Sole kann bis zu sechsmal salziger als sein Nordseewasser. Doch auch das ertragen die Algen. 

Mit Fettsäuren auf Spurensuche

AWI-Biologin Ilka Peeken schätzt, dass mehr als 1000 verschiedene Arten einzelliger Algen und verwandter Einzeller diesen extremen Lebensraum besiedeln. Und dass, obwohl es in den arktischen und antarktischen Gewässern immer wieder Phasen gibt, in denen kaum Nahrung vorhanden ist. Vor allem im Winter, wenn das Wasser unter dem Eis kaum durchmischt wird und nur wenig frische Nahrung herantreibt. „Doch die Pflanzen und Tiere sind auch daran angepasst“, sagt Ilka Peeken. Viele Eisalgen, wie zum Beispiel die Kieselalgen-Gruppe der Pennaten, speichern große Menge an Fetten, vor allem auch Omega-III-Fettsäuren. Das macht die Pennaten wiederum als Nahrung für Tiere interessant.

Viele Meeresbewohner können Omega-III-Fettsäuren nicht selbst synthetisieren, sondern nehmen sie mit der pflanzlichen Nahrung auf. Ein Glücksfall für die AWI-Forscher, denn die Fettsäuren sind somit eine ideale Substanz, um in detektivischer Kleinarbeit, die Nahrungsnetze zu rekonstruieren: „Bestimmte Algengruppen synthetisieren bestimmte Fettsäuren“, erklärt Hauke Flores. „Wenn Tiere nun vorzugsweise eine bestimmte Algengruppe fressen, reichern sie vor allem Fettsäuren dieser Gruppe in ihrem Gewebe an. Wir analysieren die Fettsäuren und können anhand unserer Ergebnisse erkennen, welches die bevorzugte Nahrung dieser Tiergruppe ist.“ 

Algenblüten am Eisrand

Früher glaubten Forscher, dass im Winter und Frühjahr unter dem Meereis Winterruhe herrscht. Heute weiß man, dass dort die Tiere auch im Winter in Bewegung sind. Jungfische oder Krilllarven fahren ihren Stoffwechsel zwar herunter, dennoch wird hin und wieder gefressen. Was die Algen im Winter machen ist aber weitgehend unbekannt.

Mit der winterlichen Polarnacht endet dann die Ruhe unter dem Eis. Sowie das Tageslicht zurückkehrt, beginnen die Eisalgen, sich in einem atemraubenden Tempo zu vermehren. „Nach dem langen Winter sind diese Algen die erste Nahrungsquelle für die Tiere der Untereis-Gemeinschaft“, sagt Ilka Peeken.

Das Frühlingserwachen läutet allerdings auch die sommerliche Meereisschmelze ein. Die Lebensgrundlage der Eisalgen schwindet. Stattdessen vermehren sich jetzt vor allem jene Algen, die frei im Wasser schweben, die Phytoplankter. Vor allem an der Eiskante, dem Rand des Eises, das im Winter die Arktis überzieht, gibt es dann große Algenblüten.

Dieses Phänomen hat zwei Gründe: Zum einen gibt es hier sehr viel mehr Licht als im Halbdunkel unter dem Eis. Zum anderen fließt jetzt das süße Wasser des schmelzenden Eises ins Meer. Da Süßwasser leichter als Salzwasser ist, legt es sich wie ein Deckel auf das Salzwasser – vergleichbar mit einem Cocktail, bei dem der Barkeeper verschiedene Flüssigkeiten übereinander schichtet. Diese stabile Schichtung führt dazu, dass das Wasser kaum zirkuliert. Auf diese Weise bleibt das Phytoplankton in der von Licht durchfluteten oberen Wasserschicht und hat damit ideale Wachstumsbedingungen. Die starken Algenblüten an der Eiskante fördern zudem auch das Wachstum der Kleinkrebse. Deshalb gehen hier, so vermuten die AWI-Wissenschaftler, auch Polardorsche auf die Jagd.

Nahrung für die Tiefseebewohner

Seit einigen Jahren schmilzt das arktische Meereis aufgrund der Erderwärmung aber nicht mehr nur am Rand sehr stark. Es wird gleichzeitig dünner. Zudem bilden sich auf seiner Oberfläche an vielen Stellen immer häufiger Schmelzwassertümpel, die bis zum darunter liegenden Meerwasser durchschmelzen. Dadurch entstehen im Eis gewissermaßen Lichtlöcher – ideale Wachstumsbedingungen für das Phytoplankton. So kommt es auch dort punktuell zu Algenblüten.

Das starke Abschmelzen des Eises in der Arktis führt aber noch zu anderen Phänomenen, die Wissenschaftler bislang in dieser Form nicht kannten. Eine besondere Beobachtung machte ein Polarstern-Expeditionsteam im Sommer 2012. Damals schmolz das arktische Meereis stärker, als Forscher es je zuvor beobachtet hatten. Das Eis war dünn, von Schmelzwassertümpeln überzogen und somit sehr lichtdurchlässig. Unter diesen Bedingungen konnte vor allem die Kieselalge Melosira arctica besonders gut wachsen. Sie bildete in jenem Sommer an vielen Stellen unter dem Eis lange Fäden und faustgroße Klumpen. Als das Eis schließlich großflächig geschmolzen war, sanken diese Klumpen schnell und auf direktem Wege in die Tiefe hinab.

Da die Wissenschaftler zu dieser Zeit mit dem Forschungseisbrecher Polarstern vor Ort waren, konnten sie Kameras zum Meeresboden schicken. Die Kamera lieferte erstaunliche Bilder. An dem sonst nahezu unbelebten Meeresboden, tummelten sich Seegurken und Schlangensterne, die sich über die Melosira-Klumpen her machten. Ganz offensichtlich wird Nahrung, die von oben herabsinkt, auch in arktischen Gewässern sehr schnell verwertet.

Schlaraffenland für ein paar Tage

Im Sommer 2012 fanden AWI-Forscher auf einer Polarstern-Expedition in die Zentrale Arktis Überreste eines großen Teppichs der Eisalge Melosira arctica unter dem Meereis. Der andere Teil der Algenmasse war bereits abgestorben und als Klumpen in die sonst eher nahrungsarme Tiefsee gesunken. Zur Überraschung der Forscher hatte der unerwartete Futterregen in die Tiefe jedoch innerhalb kurzer Zeit ein reges Treiben ausgelöst. Unzählige Bodenlebewesen genossen das unerwartete Festmahl. Dieses Video fasst die Beobachtungen kurz zusammen. 

Ein Netz wie kein anderes

Die Arbeit von Hauke Flores und Ilka Peeken zeigt, dass bei der Erforschung der Nahrungsnetze in der Arktis und Antarktis noch viele Fragen offen sind. Doch die Forscher bekommen heute einen besseren Einblick in die Lebensgemeinschaften unter dem Eis, als jemals zuvor. So benutzen sie nicht nur Kameras, sondern auch ein Spezialnetz, das vom Forschungsschiff Polarstern kilometerweit unter dem Meereis entlanggezogen wird.

In dem von Wissenschaftlern des niederländischen Meeresforschungsinstituts IMARES entwickelten „Surface and Under Ice Trawl“ (SUIT), verfangen sich unter anderem Fische und Kleinkrebse. „Außerdem haben wir Lichtsensoren angebracht, mit denen wir messen können, wie hell es unter dem Eis ist“, sagt Hauke Flores. Mit den Lichtmessungen wollen Hauke Flores, Ilka Peeken und ihre Teams den Zusammenhang zwischen dem Lichtangebot und der Entwicklung der Algen näher erforschen. Die AWI-Forscher und die Niederländer sind derzeit die einzigen Wissenschaftler weltweit, die ein so ausgetüfteltes Spezialnetz einsetzen. Das große Ziel ist klar: „Wir wünschen uns für die Zukunft, dass wir aus der Dicke des Eises und der Schneebedeckung genau auf die Helligkeit und Lebensbedingungen darunter schließen können“, sagt Ilka Peeken. „Damit könnten wir sehr gut die Biomasse abschätzen, und daraus ableiten, wie produktiv und wichtig bestimmte Gebiete in der Arktis und Antarktis für das Leben im Meer sind.“

Das SUIT-Netz im Einsatz

Dieses Video unserer niederländischen Kollegen vom Forschungszentrum IMARES zeigt, wie das SUIT-Netz im Zuge einer Polarstern-Expedition eingesetzt wird. Die Aufnahmen entstanden im Spätsommer 2013 auf einer Forschungsfahrt in das Weddellmeer, Antarktis. Sowohl die Auftaktszenen als auch die Unterwasseraufnahmen wurden mit einer GoPro-Kamera gefilmt, welche am Stahlrahmen des Netzes angebracht ist und vom Netz aus gesehen nach vorn schaut.  Quelle: Jan van Franeker - IMARES