Fernerkundung
Der direkte Draht ins Eis
Dank ausgefeilter technischer Verfahren können AWI-Forscher die Dicke des Meereises in den Polarregionen heute besser abschätzen denn je. Sie werten Satellitendaten aus, ziehen Bohrkerne aus Eisschollen und schleppen Messgeräte hinter Flugzeugen und Helikoptern her. Diese Kombination vieler Verfahren macht nicht nur die Eismessung genauer, sie hilft auch, den Klimawandel besser zu verstehen.
Ein rhythmisches Klatschen erfüllt den blauen Himmel. Der Hubschrauber hebt langsam vom Helideck des Forschungsschiffes Polarstern ab. Ein Stahlseil strafft sich unter seinem Bauch. Der Helikopter steigt weiter, über den Schornstein von Polarstern hinaus. Dann zieht das Seil an und hebt eine Art Torpedo vom Deck. Zwei Männer halten das Gerät fest, damit es nicht zu pendeln beginnt. Als der Torpedo frei über dem Helideck schwebt, gibt der Pilot Gas. Mit lautem Dröhnen saust der Hubschrauber davon - hinweg über das weite Meereis, das sich bis zum Horizont erstreckt.
Im Helikopter hinter dem Piloten sitzt Stefan Hendricks. Der AWI-Meereisphysiker tippt auf einem Laptop. Er überprüft Mess- und Höhenwerte, die der Torpedo unten am Stahlseil zu ihm in den Helikopter schickt. Hendricks trägt ein Headset, über das er in dem lärmenden Hubschrauber mit dem Piloten kommuniziert: "Wir müssen noch etwas runter." Der Pilot reagiert und dröhnt im Tiefflug übers Eis. Er blickt konzentriert. Er muss den Helikopter ruhig halten. Der Torpedo hat gerade einmal 15 Meter Abstand zum Boden. Eine Unaufmerksamkeit, und er würde auf dem Eis aufschlagen. Der Messapparat wäre dahin.
Der Torpedo ist eines der wertvollsten Geräte, die Stefan Hendricks und sein Kollege Thomas Krumpen aus der Meereisgruppe des Alfred-Wegener-Instituts bei ihrer Arbeit in der Arktis und Antarktis nutzen. "EM-Bird" nennen die Forscher ihr Flugobjekt. Mit dem Apparat messen die Wissenschaftler die Dicke des Meereises in den Polarregionen, insbesondere in der Arktis.
AWI-Meereisdickensensor EM-Bird im Einsatz
Die Forschungsflugzeuge Polar 5 und Polar 6 tragen den EM-Bird regelmäßig über das arktische Meereis. Das Video zeigt Aufnahmen verschiedener Test- und Messflüge in der Arktis. (Schnitt: Thomas Krumpen)
Größere Reichweite
Das Meereis ist heute eine der wichtigsten Messgrößen des Klimawandels. Denn das Schicksal des Eises hängt unmittelbar von der Erderwärmung ab. Verknüpft man Satellitendaten über die Ausdehnung der polaren Eismassen mit Informationen über die Eisdicke, kann man ungefähr abschätzen, wie groß die Eismenge insgesamt ist - und erhält so wichtige Hinweise auf den Zustand und die Entwicklung des globalen Klimas. Der EM-Bird hilft dabei.
Wenn der EM-Bird über das Eis hinwegsaust, misst er, wie hoch er über dem Eis-Wasser-Übergang fliegt - wie weit also die Unterkante des Eises von ihm entfernt ist. Zusätzlich erfasst ein Laser, der im EM-Bird untergebracht ist, wie hoch sich der EM-Bird über der Eisfläche befindet - also die Entfernung zum Boden. Aus beiden Messungen leitet der EM-Bird-Bordcomputer dann die Dicke des Eipanzers ab. Da das Metall des Helikopters die Messungen stören würde, hängt der EM-Bird am langen Seil.
Die AWI-Meereisphysiker setzen den EM-Bird seit dem Jahr 2001 ein. Während einer Polarstern-Expedition trägt ein Bordhelikopter das Gerät über das Eis. Der Helikopter entfernt sich bis zu 40 Seemeilen vom Schiff. Rund zehnmal pro Sekunde nimmt der EM-Bird Messwerte auf, sodass während eines Fluges viele Eisdickenwerte zusammenkommen. Seit einigen Jahren werden von Land aus mit den beiden Polarforschungsflugzeugen des AWI zusätzliche Messflüge durchgeführt – beispielsweise von Spitzbergen oder der kanadischen Küste aus. Bis zu 350 Seemeilen weit fliegen die Maschinen bei einem EM-Bird-Einsatz hinaus. Während Start und Landung hängt der EM-Bird in einer Halterung am Rumpf. Erst wenn das Flugzeug in der Luft ist, fieren die Wissenschaftler das Gerät mit einer Winde ab.
Eine Einschränkung der elektromagnetischen Induktionsmessung des EM-Birds liegt darin, dass sie nicht zwischen Schnee und Eis unterscheiden kann, da beide Schichten kaum elektrisch leitfähig sind. Man kann aber mehr herausfinden, wenn zusätzlich die Informationen des Lasers mit ausgewertet werden. Der Laser misst die Schneehöhe und zusätzlich die Höhe des Eises, das aus dem Wasser herausschaut, das sogenannte Freibord. Ins Wasser hineinschauen kann der Laser wiederum nicht. „Wir kennen die Gesamtdicke von Schnee und Eis durch den EM-Bird und dank des Lasers das Freibord. Kombinieren wir beide Methoden, erhalten wir deutlich bessere Abschätzungen der tatsächlichen Eisdicke“, sagt Stefan Hendricks mit einem gewissen Stolz. „Wir sind derzeit eine der wenigen Forschergruppen weltweit, die beide Verfahren in einem Flugzeug einsetzen.“ Die Wissenschaftler stellen ihre Daten daher gern in internationalen Meereisportalen zur Verfügung. „Wir betreiben vor allem auch Grundlagenforschung, die dazu beitragen soll, die Meereisbildung und vor allem auch die Auswirkungen des Klimawandels künftig besser zu verstehen“, so Stefan Hendricks.
EM ist eine Abkürzung für den sperrigen Begriff "aerogeophysikalisches elektromagnetisches (EM) Induktionsverfahren im Frequenzbereich". Letztlich arbeitet der EM-Bird ähnlich wie ein Metalldetektor. Das Gerät baut um sich herum ein elektrisches Feld auf und kann verschiedene Schichten im Untergrund anhand ihrer elektrischen Leitfähigkeit unterscheiden. Der EM-Bird wurde darauf optimiert, den Übergang zwischen Eis und Meerwasser zu erspüren. Meerwasser enthält viel Salz und ist deshalb sehr leitfähig. Eis hingegen enthält kaum Salz. Es ist außerdem ein Festkörper und leitet daher weit weniger gut.
Dünneres und weniger kompaktes Meereis unterliegt einer höheren Dynamik. Es wird zum Beispiel schneller und einfacher durch den Wind und durch Meeresströmungen bewegt.
An bewölkten Tagen erwärmen sich und schmelzen arktisches Meereis sowie Schnee auf dem Meereis schneller als an wolkenlosen Tagen.
Das dickste arktische Meereis findet man heutzutage in einem Band mehrjährigen Eises an der Küste von Grönland und Ellesmere Island. Dieses Eis ist im Mittel vier bis fünf Meter dick. Es gibt aber auch vereinzelte Presseisrücken, die eine Höhe von über 30 Metern erreichen. Sie entstehen, wenn der Wind die Eisfelder zusammendrückt und Eisschollen sich auftürmen.
Die Dicke des arktischen Meereises hat in den zurückliegenden Jahrzehnten signifikant abgenommen. Die am häufigsten auftretende Meereisdicke während des Sommers betrug in den 1960er Jahren circa 3,0 Meter, in den 1990ern noch über 2,0 Meter und in den letzten vier Jahren circa 0,9 Meter.
Seit dem Jahr 1991 vermessen AWI-Meereisphysiker regelmäßig die Dicke des arktischen Meereises. Die folgende Grafik zeigt die Routen der flugzeugbasierten Messungen aus dem Zeitraum 2001 bis 2012.
Einsatz verschiedener Messmethoden
Die Herausforderung für Stefan Hendricks, Thomas Krumpen und ihre Kollegen besteht darin, dass sie einerseits ein möglichst großes Meereisgebiet, idealerweise die ganze Arktis, vermessen wollen, dass sie andererseits aber auch möglichst genau messen müssen. Andernfalls ließe sich die Eismenge in der Arktis nicht wirklichkeitsgetreu berechnen. Am genausten wären Eisdickenmessungen, die die Forscher direkt auf dem Eis durchführen, beispielsweise, indem sie mit einem Bohrer Eisbohrkerne aus dem Eis holen. Doch die Arktis ist weit und die AWI-Meereisforscher können nicht überall sein. Deshalb kombinieren sie mehrere Messverfahren, um die Eisdicke möglichst genau zu bestimmen. „Wir nutzen die ganze Kette an Methoden“, sagt Thomas Krumpen. „Erstens Messungen vor Ort auf dem Eis, zweitens die Flüge mit dem EM-Bird und drittens Satellitendaten." Jedes Verfahren hat seine Stärken und Schwächen.
In der Kombination gleichen sich die Schwächen aus. Wenn Stefan Hendricks und Thomas Krumpen mit dem Forschungseisbrecher Polarstern unterwegs sind, hält das Schiff immer wieder einmal an, damit die Forscher von Bord gehen und das Eis direkt vermessen können. Etwa zehn solcher Stopps gibt es während einer Arktis-Expedition. Die Wissenschaftler bohren nicht nur Kerne aus dem Eis, sondern setzen auch automatische Messgeräte aus. Eine Messkette mit Thermosensoren zum Beispiel, die misst, wie das Eis langsam wächst. Die Forscher bohren dazu ein Loch ins Eis und lassen die Messkette mehrere Meter tief ins Wasser hinab. Wird das Eis langsam dicker, friert auch die Messkette Zentimeter um Zentimeter ein. Da Eis immer dieselbe Temperatur hat, nehmen die Sensoren das Einfrieren wahr. Über eine Satellitenverbindung werden die aktuellen Eisdickendaten dann nach Bremerhaven geschickt. Zwar sind solche Messungen sehr genau, doch liegen eben nur für einige wenige Orte Daten vor.
Blick aus dem All
Doch selbst wenn die Forscher Messflüge mit dem Flugzeug machen, sehen sie stets nur einen kleinen Ausschnitt der polaren Eismassen. Daher nutzen sie zusätzlich Eiskarten des Radarsatelliten Cryosat-2. Diese werden den Forschern von der Europäischen Weltraumagentur ESA (European Space Agency) zur Verfügung gestellt. Die Radarstrahlen des Satelliten tasten die Eismassen auf der Erde in einem 1600 Meter breiten Streifen ab. Verglichen mit Messungen auf dem Eis oder EM-Bird-Überflügen ist das eine relativ grobe Auflösung. Allerdings lichtet Cryosat auf diese Weise die Arktis innerhalb eines Monats einmal komplett ab. Da er Radar verwendet, kann er auch durch Wolken hindurchschauen. Der Nachteil: Die Radarstrahlung durchdringt nur zu einem Teil die Schneedecke. Die AWI-Forscher müssen diesen Effekt berücksichtigen, damit sie die Eisdicken nicht falsch berechnen.
Um herauszufinden, wie aussagekräftig die Cryosat-2-Eisdicken-Daten tatsächlich sind, starteten die Forscher um Stefan Hendricks vor zwei Jahren eine besondere Messkampagne. Sie reisten mit dem AWI-Flugzeug in die Arktis, um zur selben Zeit wie Cryosat-2 denselben Meereisstreifen zu überfliegen. „Das war recht anspruchsvoll, weil wir aus den Flugdaten von Cryosat-2 zunächst ganz genau errechnen mussten, zu welcher Zeit sich der Satellit in unserer Nähe befinden würde“, erzählt Hendricks. „Doch es hat geklappt. Wir sind exakt zum richtigen Zeitpunkt mit dem Flugzeug übers Eis geflogen.“
Dank des Vergleichs zwischen Flugzeug- und Satellitendaten können die Meereisforscher die Messwerte von Cryosat-2 jetzt besser einschätzen. Damit lässt sich die Eisdicke für die gesamte Arktis jetzt noch besser berechnen. „Dennoch hat jedes Verfahren nach wie vor Unsicherheiten“, sagt Hendricks. „So müssen wir die Schneedicke immer noch aufgrund theoretischer Überlegungen abschätzen, da diese bisher von Satelliten nicht gemessen wird. Es bleibt deshalb schwierig, exakte Dicken zu berechnen.“ So versuchen die Meereisforscher weiter, die Messverfahren oder die Datenauswertung zu optimieren. Derzeit arbeiten sie zusammen mit Forschern der Technischen Universität Hamburg-Harburg an einem Schneeradar, mit dem sich die Schneebedeckung während eines Überfluges genauer denn je abschätzen lassen wird. Stefan Hendricks und seine Kollegen werden also noch öfter mit dem Heli zum Flug über das Eis aufbrechen.