In einer neuen Experimentalanlage des AWI auf Sylt lässt sich simulieren, welche Auswirkungen der Klimawandel auf Küsten-Ökosysteme hat.
Steigende Temperaturen und saureres Wasser, immer mehr Nährstoffe und neu eingeführte Arten: Der Mensch ist dabei, die Lebensbedingungen im Meer massiv zu verändern. Was aber bedeutet das für die Lebensgemeinschaften dort? Werden sie auch in Zukunft noch so funktionieren wie bisher? Und was, wenn nicht? Solche Fragen lassen sich in sogenannten „Mesokosmen“ untersuchen. Dabei handelt es sich um große, mit Meerwasser gefüllte Tanks, in denen man verschiedene Umweltfaktoren verändern und so die Reaktionen von Tieren, Pflanzen und ganzen Lebensgemeinschaften testen kann. Eine der europaweit größten und modernsten derartigen Anlagen eröffnet das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) am 5. August in List auf Sylt.
„Wir haben in den vergangenen Jahren schon gute Erfahrungen mit solchen Mesokosmen gemacht“, sagt Dr. Lisa Shama, die am AWI als Wissenschaftlerin und Koordinatorin der Anlage arbeitet. Bereits 2013 hat das Institut auf dem Gelände seiner Sylter Wattenmeerstation ein Dutzend solcher Tanks installiert. Jeder davon fasst 1800 Liter Meerwasser und kann unabhängig von den anderen gesteuert werden. So lässt sich genau festlegen, welche Temperatur und welchen pH-Wert, welchen Salz- und Nährstoffgehalt jeder Meeres-Kosmos haben soll. Damit die Bewohner möglichst naturnahe Bedingungen vorfinden, lassen sich in jedem Becken zudem die Strömung und die Gezeiten des Wattenmeeres simulieren, das Licht kommt durch einen Plexiglasdeckel von außen.
In dieser Anlage hat das AWI-Team unter anderem getestet, welche Auswirkungen verschiedene Zukunftsszenarien des Weltklimarates IPCC (The Intergovernmental Panel on Climate Change) auf Meeresbewohner haben. Dabei geht es um die Erwärmung wie auch um die Versauerung des Meerwassers, das aus der Atmosphäre CO2 aufnimmt. So hat sich zum Beispiel gezeigt, dass am Meeresboden lebenden Flohkrebse recht empfindlich auf Veränderungen reagieren: Lässt man Temperatur und pH-Wert auf dem heutigen Niveau und verstärkt die Nährstoffzufuhr, nimmt auch die Zahl dieser kleinen Tank-Bewohner zu. Bei steigenden Temperaturen und zunehmender Versauerung dagegen brechen die Flohkrebs-Bestände zusammen.
In anderen Experimenten haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des AWI einen Blick in die Zukunft der Mikroalgen geworfen. Auch dabei hat sich gezeigt, dass IPCC-Szenarien mit höheren Temperaturen und niedrigeren pH-Werten in der Welt der winzigen Algen deutliche Spuren hinterlassen. „Wenn wir den Klimawandel nicht bremsen, müssen wir demnach mit massiven Veränderungen im Plankton und damit in den Nahrungsnetzen rechnen“, sagt Prof. Dr. Karen Wiltshire, AWI Vize-Direktorin und Leiterin der Wattenmeerstation.
Auch Muscheln, Seegras und Fische waren in der Sylter Anlage bereits mit den Bedingungen einer wärmeren Zukunft konfrontiert. In einem Experiment mit Stichlingen haben Lisa Shama und ihr Team beispielsweise festgestellt, dass sich die Umweltbedingungen sogar auf die sexuelle Attraktivität dieser kleinen Fische auswirken können. In einem wärmeren Mesokosmos entschieden sich die Weibchen am liebsten für solche Partner, deren Väter schon bei höheren Temperaturen aufgewachsen waren. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Fisch-Eltern auf nicht-genetischem Weg Informationen an ihre Nachkommen weitergeben.
„Allerdings konnten wir in unserer Anlage bisher nur relativ einfache Versuche machen“, sagt die Forscherin. Es war zwar durchaus möglich, zwei Umweltfaktoren wie etwa Temperatur und pH-Wert zu manipulieren. Doch so simpel ist die reale Welt ja nicht. „Da sind komplexe Lebensgemeinschaften einer Menge unterschiedlicher Stressfaktoren ausgesetzt, die sich auch noch gegenseitig beeinflussen“, sagt Lisa Shama. In den Becken auch noch die Nährstoffverhältnisse, den CO2-Gehalt und den Meeresspiegel zu verändern, war aber kaum machbar. Schließlich muss jede Kombination von Faktoren in mehreren Bassins durchgespielt werden, um statistisch aussagekräftige Ergebnisse zu bekommen.
Im Frühjahr 2021 hat das AWI seine auf den Namen AWISOM („AWI Sylt Outdoor Mesocosms“) getaufte Anlage daher erweitert. Zwölf mit modernster Technik ausgerüstete Mesokosmen gleicher Größe sind hinzugekommen, passend dazu wurden die alten Tanks technisch aufgerüstet. „Sie haben zum Beispiel eine neue Software bekommen, mit der man Ebbe und Flut noch besser simulieren kann“, erklärt Lisa Shama. „Das ist besonders wichtig, um die Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs zu untersuchen.“ Zusätzlich zu den 24 im Freiland aufgebauten Bassins stehen noch sechs weitere in einem großen Gewächshaus, wo künftig auch im Winter Experimente möglich sein werden.
In den Freiland-Becken laufen schon erste Versuche. So hat das AWI-Team von Dr. Tobias Dolch und Dr. Ketil Koop-Jakobsen im nördlichen Wattenmeer Blöcke mit Sediment und Pflanzen aus Seegras- und Salzwiesen ausgestochen und in jeweils zwölf Mesokosmen verfrachtet. Drei Monate lang werden die Gewächse dort Temperaturen und CO2-Verhältnissen ausgesetzt sein, wie sie für das Jahr 2100 prognostiziert werden.
Wie entwickeln sich ihre ober- und unterirdischen Teile, wenn das Wasser 3,5 Grad Celsius wärmer ist als heute und der Kohlendioxid-Gehalt in der Atmosphäre sich verdoppelt? Gibt es dann Veränderungen in der Wuchsform oder den mechanischen Eigenschaften der Blätter? Solche Fragen wollen Tobias Dolch und Ketil Koop-Jakobsen klären. Denn gerade im Wattenmeer ist dazu bisher wenig bekannt. Dabei wären die Antworten wichtig, um die Zukunftschancen dieser Ökosysteme abschätzen zu können.
Schließlich sind Salz- und Seegraswiesen nicht nur ökologisch wichtige Lebensräume für Tiere und Pflanzen, beide leisten auch einen Beitrag zum Klimaschutz. Denn sie nehmen große Mengen CO2 aus der Atmosphäre auf und können einen guten Teil davon als Kohlenstoff im Boden speichern. Da wüsste man schon gern, welche Auswirkungen der Klimawandel auf diese Ökosysteme und ihre Kohlenstoffdepots hat. Können sich beispielsweise die Seegraspflanzen auch in Zukunft noch erfolgreich vermehren? Und werden die Salzwiesen auch künftig noch Sedimente zurückhalten, wenn sie bei Flut überschwemmt werden? Nur dann wären sie in der Lage, mit dem durch den Klimawandel steigenden Meeresspiegel mitzuwachsen und auch einen Beitrag zum Küstenschutz zu leisten.
„Solche wichtigen Zukunftsfragen werden wir in der neuen Anlage viel besser untersuchen können als bisher“, sagt Karen Wiltshire. Auch Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler von anderen Forschungseinrichtungen, Universitäten und Institutionen haben schon Interesse angemeldet, die „Nordsee im Kleinen“ zu nutzen. Denn die Zukunft der Meere steckt noch voller Rätsel. Und ein paar davon werden sich vielleicht auf Sylt lösen lassen.