Glück im Unglück
Ein Interview über verspätete Koffer, die Corona-Pandemie und die innere Uhr des Krill
Bettina Meyer ist Leiterin der Arbeitsgruppe Ökophysiologie der pelagischen Schlüsselarten am Alfred-Wegener-Institut, in Bremerhaven. Vor gut vier Wochen kam sie von einer Expedition aus dem Südpolarmeer zurück. In diesem Interview erzählt sie, woran sie dort geforscht hat und wie die Corona-Pandemie ihrer Rückreise zunächst einen Strich durch die Rechnung machte.
Die meisten Forschungsexpeditionen mussten in den vergangenen Wochen aufgrund der Corona-Pandemie abgebrochen werden oder konnten erst gar nicht angetreten werden. Sie waren zu der Zeit im Südpolarmeer unterwegs und damit eine der wenigen, die noch aktiv außerhalb des Instituts forschen konnte. Wie kam es dazu und für wie lange war Ihre Reise geplant?
Als wir am 20. Februar unsere Dienstreise antraten war in keiner Weise abzusehen, dass sich die Lage so extrem entwickeln würde. Die Fahrt auf dem Schiff war bis zum 27. März vorgesehen. Dann wäre offiziell Schluss gewesen. Unser Rückflug war für den 6. April geplant.
Wann haben Sie während der Reise zum ersten Mal von der Corona-Pandemie gehört und wie nahmen Sie die Entwicklung in der Welt durch COVID-19 wahr?
Wir haben im März das erste Mal davon erfahren. Als auch alles in den Medien war. Wir hatten Internet an Bord und standen natürlich auch mit Familie und Freunden in Kontakt.
Uns kamen die Bilder und Geschichten, die wir gesehen und gehört haben sehr surreal vor. Wir sahen es, aber wir konnten es nicht erfühlen. Wir fühlten uns manchmal wie Beobachter von einem anderen Planeten.
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Letztlich waren Sie gut einen Monat länger an Bord als ursprünglich geplant. Konnten Sie aus der Not eine Tugend machen?
Für uns war das Ganze ein großer Vorteil, weil unsere zwei Kisten mit Equipment, die mit uns nach Santiago de Chile geflogen sind, es nicht mit uns auf die Falklandinseln und damit auch nicht an Bord geschafft haben. Das heißt wir mussten am 22. Februar auf das Schiff und hatten erst mal nicht viel. Nur das Allernötigste hatten wir zum Glück in unserem eigenen Gepäck, wie zum Beispiel Besteck um Krill zu sezieren und Probenfläschchen um Krill einzufrieren. Als uns die Kisten dann endlich in der zweiten Märzhälfte erreichten, konnten wir die zusätzliche Zeit sehr gut nutzen, um den Prototyp eines neu entwickelten Messgeräts intensiv zu testen.
Woran forschen Sie aktuell denn genau?
Wir möchten feststellen, wie die innere Uhr im Krill funktioniert. Genauer gesagt, wie sie in den verschiedenen Jahreszeiten funktioniert und welche täglichen sowie saisonalen Lebensfunktionen über diese Uhr gesteuert werden. Uns interessiert zum Beispiel, welche Faktoren beeinflussen, wann der Krill geschlechtsreif wird. Oder warum der Krill mal schneller und mal langsamer wächst. Wird das Wachstum durch Umweltfaktoren beeinflusst oder ist es die innere Uhr?
Können Sie diese Untersuchungen konkret beschreiben?
Wir untersuchen die sogenannten Uhr-Gene um herauszufinden, was die Treiber für die innere Uhr in den verschiedenen Jahreszeiten sind. Um unsere Studien an der inneren Uhr von Krilll durchführen zu können, benötigen wir Krillproben zu verschiedenen Zeiten. Das bedeutet, dass wir alle 3 bis 4 Stunden über einen Zeitraum von insgesamt 48 Stunden in einem Gebiet Proben nehmen. Somit können wir die täglichen Veränderungen an den Uhr-Genen analysieren. Dazu werden wir den Krill sezieren und später im Labor in Bremerhaven molekularbiologisch untersuchen.
Zeitgleich benötigen wir lebenden Krill aus dem gleichen Gebiet, um über einen Zeitraum von einer Woche Experimente mit Krill unter verschiedenen Licht- und Dunkelphasen durchzuführen. Diese Messungen führen wir direkt an Bord durch. Wir untersuchen das Verhalten des Krills mit einem Gerät, das mit verschiedenen Lichteinstellungen und Sensoren arbeitet. Normalerweise wandert Krill tagsüber in tiefere Wasserschichten, um sich vor Fressfeinden zu schützen, und kommt nachts an die Oberfläche um zu fressen. Dieses Gerät wird nun entgegengesetzte Lichtphasen simulieren, um somit herauszufinden, ob der Krill die tägliche Wanderung beibehält oder sich den neuen Lichtbedingungen anpasst. Dieses kann Aufschlüsse darüber geben, ob die Wanderungsaktivität von der inneren Uhr gesteuert wird – oder eben von externen Faktoren.
Des Weiteren möchten wir die Ergebnisse aus den Uhr-Gen-Analysen und den Aktivitätsexperimenten mit den Verhaltensmustern in der freien Natur vergleichen. An Bord gibt es akustische Messmethoden, mit denen wir das Schwarmverhalten von Krill großflächig untersuchen können.
Warum ist gerade Krill für Sie so interessant?
Krill ist insbesondere im Südpolarmeer ein wichtiger Schlüsselorganismus. Er spielt eine sehr zentrale Rolle im Nahrungsnetz, weil ihn viele Tiere wie Pinguine, Fische und Seevögel fressen. Aber auch die größeren Tiere, wie Robben und Wale ernähren sich hauptsächlich von Krill. Deshalb ist es für uns wichtig zu verstehen, ob und wie sich die Krillpopulation in Zeiten des Klimawandels entwickelt.
Welche Auswirkungen erwarten Sie aufgrund des Klimawandels?
Durch den Klimawandel kann das über Millionen von Jahren entwickelte Zusammenspiel zwischen wichtigen Lebensfunktionen von Organismen und ihrer Umwelt, welches in vielen Organismen über eine innere Uhr gesteuert wird, aus dem Gleichgewicht geraten. Ein Beispiel hierbei wäre die Phytoplanktonblüte im Frühjahr. Nach einer langen Winterpause ist die Phytoplanktonblüte eine sehr wichtige Nahrungsquelle für den Krill um die Geschlechtsreife voll auszubilden. Wir wissen, dass dieses Zusammenspiel durch eine innere Uhr gesteuert wird. In einem bestimmten Zeitraum im antarktischen Frühjahr benötigt der Krill die Energie und die Fettsäuren aus den Diatomeenblüten um geschlechtsreif zu werden. Angenommen, die Phytoplanktonblüte würde sich nun verspäten oder vielleicht sogar verfrühen, dann könnte dieses einen erheblichen Einfluss auf den Zeitpunkt der Geschlechtsreife des Krills haben. Und das wiederum hätte negative Auswirkungen auf die gesamte Populationsentwicklung.
Infobox: Krillfischerei
Hinter der kommerziellen Krillfischerei steckt das Interesse von zwei großen industriellen Abnehmern: die Fischindustrie und die Nahrungsmittelindustrie. In der Fischindustrie wird das produzierte Krillmehl weltweit als Fischfutter in der Aquakultur eingesetzt. Für die Nahrungsmittelindustrie ist Krill aufgrund seines reichen Gehalts an Omega-3-Fettsäuren besonders interessant. Krill wird an Bord zunächst zu Krillöl verarbeitet, bevor er in Form von Kapseln auf den Markt gebracht wird. Die Kapseln werden in vielen Ländern als beliebtes Nahrungsergänzungsmittel für den Menschen eingesetzt. Insbesondere der antarktische Krill gilt in seiner gepressten Kapselform als exklusiv. Neben China, Chile und Norwegen sind noch weitere Länder an dem Krillfang in der Antarktis beteiligt. Überwacht wird der Fisch- und Krillfang durch CCAMLR (Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis), eine internationale Kommission, die sich seit 1982 das Ziel gesetzt hat, die Antarktis mit ihren Bewohnern vor der wirtschaftlichen Ausbeutung zu schützen und eine nachhaltige Fischerei zu bewahren.
Für diese Expedition waren Sie nicht wie sonst üblicherweise auf einem Forschungsschiff unterwegs, sondern auf einem norwegischen Krillfischereischiff. Worin unterscheidet sich für Sie der Alltag auf einem Forschungsschiff wie der Polarstern zu dem Alltag auf einem kommerziell genutzten Schiff?
Das gesamte Geschehen an Bord ist auf die kommerzielle Krillfischerei ausgerichtet. Wenn in einem bestimmten Gebiet die Fischerei nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt, wird das Gebiet gewechselt. Dabei wird nicht auf wissenschaftliche Fragestellungen oder Probennahmepläne geachtet. Wenn sich auf Polarstern anhand der Ergebnisse, die wir an Bord erhalten, diverse Fragestellungen ergeben, können wir denen bis zu einem bestimmten Grad nachgehen. Auf einem Fischereischiff ist das anders: Wenn ich zum Beispiel gerne die Größenstruktur von Krill in einem Krillschwarm untersuchen möchte und den Kapitän bitte, mehr im oberen oder unteren Randbereich des Schwarms zu fischen, dann ist das kaum möglich, weil es immer um die maximal mögliche Fangmenge geht.
Ein großer Vorteil hingegen ist die Tatsache, dass wir zu fast jedem beliebigen Zeitpunkt ohne großen Aufwand an frische Krillproben direkt aus dem Feld kommen. Das sind optimale Bedingungen, die wir sonst nur aus dem Labor kennen – jetzt konnten wir erstmalig unsere Untersuchungen an der inneren Uhr mit Freilandkrill durchführen. Außerdem wird der Krill besonders schonend an Bord gepumpt. Das bedeutet für uns, dass wir unsere Proben in einer außergewöhnlichen Qualität und Quantität bekommen. Zusätzlich bedarf es keiner Koordination mit vielen anderen Wissenschaftlern an Bord, um die Schiffszeit einzuteilen.
Wie geht es weiter mit der Forschung? Was passiert mit den Proben?
Der jetzige Aufenthalt war als Testphase gedacht um zu sehen, was aus wissenschaftlicher Sicht an Bord möglich ist und um Gerätschaften, die zurzeit am AWI für die Aktivitätsstudien entwickelt werden, zu testen. Das geplante Projekt ist für zwei Jahre ausgelegt, so dass wir alle vier Jahreszeiten mit unseren Untersuchungen abdecken können. Der offizielle Start der Forschungskampagne ist für dieses Jahr im Dezember geplant. Die gefrorenen Krillproben, von unserer jetzigen Ausfahrt, werden zum AWI verschickt und dort analysiert.
Gibt es schon erste wichtige Erkenntnisse?
Zunächst hat sich für uns bereits in den vielen Unterhaltungen mit der Crew und den Verantwortlichen an Bord bestätigt, dass die Krillfischerei durch ihre jahrelange Aktivität in den immer gleichen Gebieten und Jahreszeiten über einen riesigen Erfahrungsschatz verfügt, was das Verhalten von Krill und die saisonale geographische Verteilung von Schwärmen angeht. Schaffen wir es, diese Beobachtungen und Erfahrungen der Fischerei in Zukunft in wissenschaftliche Erkenntnisse zu „übersetzen“, ermöglicht uns dieses einen weitaus detaillierteren Einblick in die komplexen Vorgänge, die sich im Südpolarmeer abspielen.
Als weitere wichtige Erkenntnis konnten wir mittels der Krill-Schiffsakustik an Bord feststellen, dass Krill in verschiedenen Gebieten nicht wie allgemein angenommen eine tägliche Vertikalwanderung aufzeigt, sondern dass sie den ganzen Tag in großen Schwärmen an der Oberfläche bleiben. Wir wissen nicht, warum sie das in bestimmten Gebieten tun, aber das hat einen erheblichen Einfluss auf den Kohlenstofffluss.
Sie und Ihr Team haben die durch die Corona-Pandemie bedingte zusätzliche Zeit an Bord sehr gut für Ihre Krill-Forschung nutzen können. Doch wie und wann sind Sie nun nach Deutschland zurück gekommen? Das lief aufgrund der Pandemie ja auch anders ab als geplant…
Ja, das stimmt. Am 30. April ging es für uns zunächst auf die Falklandinseln zurück. Der British Antarctic Survey, ein enger Kooperationspartner des AWIs, der auch auf den Falklandinseln stationiert ist, hat uns sehr unterstützt. Sie mussten selber eine große Rückholaktion planen, um ihre Forscher aus der Antarktis nach Hause zu bringen. Wir wurden dann mit der Royal Air Force zu einem Militärstützpunkt in der Nähe von London gebracht. Von London Heathrow ging es dann weiter mit einem Linienflug nach Deutschland und zu guter Letzt mit dem Zug in die Heimat.
Worüber haben Sie sich bei Ihrer Ankunft am meisten gefreut?
Ganz klar: über den Frühling, das Grün, die Blütenpracht und die warmen Temperaturen. Für mich war es ein unglaublich langer Winter, mit viel Schnee, Eis und Nebel.
Interview: Laura Niemeyer