Kontakt
Janin Schaffer
Der Eispanzer Grönlands schrumpft - und zwar immer schneller. Besonders stark sind die Gletscher am Rand des Inlandeises von diesem Schwund betroffen. Warum ihr Rückgang in einem so auffallend hohen Tempo von statten geht und welche Mechanismen ihn antreiben, haben Wissenschaftler noch nicht genau verstanden. Ist es vor allem das wärmer werdende Meer, das von unten an den Eiszungen nagt? Dieser Frage geht AWI-Ozeanographin Janin Schaffer am Beispiel des grönländischen 79°-Nord-Gletschers nach. Um an die dafür notwendigen Messdaten zu gelangen, musste es ihr im Sommer 2016 gelingen, mit Polarstern dorthin zu fahren, wohin es bisher noch kein Forschungsschiff geschafft hat – direkt vor die Gletscherfront. Ein Expeditionsbericht!
Als ich das erste Mal mit dem Helikopter von Bord der Polarstern aus zum 79°-Nord-Gletscher fliege, wird mir bewusst, wie nah wir unserem Ziel sind. Wir wollen dorthin, wo bisher noch kein Schiff war - an die östliche Gletscherfront des 79°-Nord-Gletschers im Nordosten Grönlands. Neuland in Sicht!
Auf der Gletscherzunge selbst gab es bereits Anfang der 1990er Jahre eine große Messkampagne, an der u.a. unser ehemaliger AWI-Kollege Christoph Mayer beteiligt war. Basierend auf seinen Messungen wissen wir, dass sich unter der 80 Kilometer langen, schwimmenden Gletscherzunge eine bis zu 900 Meter tiefe Kaverne befindet. Sie ist unterhalb von etwa 400 Metern Tiefe mit rund einem Grad Celsius warmen Atlantikwasser gefüllt, welches das Eis an der Gletscherunterseite in hohen Raten schmelzen lässt.
Seit fast drei Jahren arbeite ich im Zuge meiner Doktorarbeit an der Frage, wie dieses warme Atlantikwasser aus der Framstraße zum 79°-Nord-Gletscher transportiert wird. Doch gerade aus dem für mich so entscheidenden Gebiet direkt vor dem Gletscher gab es bisher keine Daten, denn eine stabile Festeismasse hatte bislang schiffsbasierte Messungen unmöglich gemacht. Hier war noch nicht einmal bekannt, wie tief der Meeresboden ist, geschweige denn, auf welchem Weg das Atlantikwasser zum 79°-Nord-Gletscher hinfließt. Satellitenbilder aus den zurückliegenden Jahren zeigten dann jedoch, dass die Festeismasse vor dem Gletscher im Spätsommer immer öfter aufbricht. Und genau das wollten wir ausnutzen.
Auf der diesjährigen GRIFF Expedition (PS100) wollten wir, der Fahrtleiter Torsten Kanzow und 45 motivierte Wissenschaftler und Techniker, in unmittelbarer Nähe des Gletschers ein intensives Mess-programm durchführen. Aber warum interessiert uns gerade dieser eine von über 250 Gletschern, die rund um die grönländische Küste ins Meer münden?
Janin Schaffer
Wenn man die Entwicklung der Gletscher insgesamt betrachtet, stellt der 79°-Nord-Gletscher fast schon eine Ausnahme dar. Im Gegensatz zu den Gletschern an der West- und Südküste Grönlands, die sich in den vergangenen Jahren weit zurückgezogen und verdünnt haben, hat sich der 79°-Nord-Gletscher kaum verändert. Eingebettet in einen Fjord schiebt er sich nach Osten gegen eine Kette aus kleinen Inseln, welche an der Gletscherfront aus dem Wasser ragen und die Gletscherzunge stabilisieren.
Für den Rückzug seiner Nachbarn weiter südlich ist vermutlich wärmer werdendes Atlantikwasser mitverantwortlich, welches um die Küste Grönlands zirkuliert. Die wenigen vorhandenen Messungen internationaler Forscher aus den Jahren 1997, 1998, 2009, 2011 und 2014 legen die Vermutung nahe, dass sich das Ozeanwasser in der Kaverne unterhalb des 79°-Nord-Gletschers um 0,5 Grad Celsius erwärmt hat. Wir fragen uns daher, wie schnell und auf welchem Wege kann sich eine Temperaturveränderung im Nordatlantik den Weg in eben diese Gletscherkaverne bahnen? Gibt es einen tiefen Durchlass an der Gletscherfront zwischen den Inseln, der einen direkten Austausch des Wassers in der Kaverne mit der Umgebung zulässt? Oder wird das Atlantikwasser episodisch durch dynamische Ozeanprozesse über eine Schwelle gehoben? Um diese Fragen zu beantworten, mussten wir mit dem Schiff direkt vor die Gletscherfront gelangen.
Bereits während der ersten fünf Wochen unserer Polarstern-Reise, in denen wir in der Framstraße arbeiten, schauen wir gebannt auf die Satellitenbilder und beobachten, wie sich Tag für Tag große Risse in der riesigen geschlossenen Meereisschicht bilden. Als wir uns dem 79°-Nord-Gletscher nähern, scheint die Lage auf Polarstern dennoch verzwickt. Schlechte Sicht und viel Meereis mit Eisbergen, die 10 bis 20 Meter aus dem Wasser ragen, versperren uns den Weg. Brauchen wir einen Plan B? Doch der Wind dreht, schiebt das Eis von der Front des 79°-Nord-Gletschers weg und beschert uns in den darauffolgenden Tagen strahlenden Sonnenschein.
Neuland liegt vor uns! Doch Neuland heißt auch, dass in dieser Region bisher der Boden nicht kartiert wurde. Nur ein paar einzelne Punktmessungen lassen erahnen, dass es hier Wassertiefen von 450 Metern geben muss, aber auch einige Untiefen. Sie interessieren in erster Linie den Kapitän. Aber auch wir Ozeanographen sind stark an der Bodentopographie interessiert, denn diese bestimmt maßgeblich, in wieweit ein direkter Austausch des Atlantikwassers zwischen der Gletscherkaverne und der Umgebung möglich ist.
Wir tasten uns langsam die Gletscherfront entlang und finden tatsächlich einen tiefen Durchlass zwischen den Inseln. Unsere Messungen hier zeigen, dass warmes Atlantikwasser direkt am Meeresboden schnell unter die Gletscherzunge strömt. An der Oberfläche beobachten wir zudem, wie Schmelzwasser in einem riesigen Plume unter der Gletscherzunge hervorsprudelt. Letzteren muss man sich wie einen gigantischen Wasserstrahl mit einem Durchmesser von bis zu 20 Metern vorstellen.
Wir arbeiten Tag und Nacht und sind begeistert beim ersten Blick in die Daten. Neben unseren klassischen Messungen von Temperatur-, Salz- und Geschwindigkeitsprofilen legen wir Verankerungen für Langzeitmessungen in der Wassersäule aus und messen mit einer Turbulenzsonde kleinräumige Vermischungsprozesse. Zudem testen wir zum ersten Mal den Einsatz einer Mini-CTD. Diese besteht aus einem kleinen 20 Zentimeter langen Sensor, den wir an einer Angel befestigt haben. So können wir mit dem Helikopter an Orte fliegen, an die wir mit Polarstern nicht hingelangen, und dort zum Beispiel von einer Eisscholle aus in kürzester Zeit und ohne viel Aufwand ein Temperaturprofil „angeln“. Und wir angeln tiefer als gedacht: Anstatt der erwarteten 50 Meter ist das Wasser hier bis zu 650 Meter tief.
Auf dem Gletscher selbst bauen wir für unsere AWI-Glaziologen zwei Eisradar-Messstationen auf. Diese werden in einem Jahr wieder eingesammelt und sollen dann Aufschluss über das Ausmaß der Schmelze an der Gletscherunterseite geben. Da diese vom Atlantikwasser angetrieben wird, werden die Daten unsere ozeanographische Messungen an der Gletscherfront hervorragend ergänzen.
Dort haben wir zudem Instrumente in der Wassersäule verankert, mit denen wir ein Jahr lang Strömungen, Temperatur und Salzgehalte aufzeichnen werden, um genauere Einblicke in den Einstrom des warmen Atlantikwassers unter die Gletscherzunge sowie in den Ausstrom des Schmelzwassers zu erhalten.
Doch nicht nur unsere Messergebnisse begeistern, auch die grönländische Landschaft beeindruckt. Ich kann mich an den Gletschern, Bergen und Inseln im Sonnenlicht kaum sattsehen – auch wenn wir von nun an tagelang vor der Gletscherfront auf- und abfahren, um möglichst viele Messungen durchzuführen.
Doch die Schönheit dieser Eismassen scheint vergänglicher denn je. Wir werden versuchen, unseren Teil dazu beizutragen, ein besseres Verständnis für die Prozesse, die einen möglichen Kollaps der Gletscherzunge auslösen können, zu schaffen. Wie schnell wird die Eiszunge von unten schmelzen? Wie lange kann sich der 79°-Nord-Gletscher noch halten?
Durch unsere neuen Messdaten werden wir einige Fragen beantworten können. Wir freuen uns darauf, unseren Datens(ch)atz auszuwerten, und planen derzeit unsere Rückkehr zum Gletscher im kommenden Jahr. Dann wollen wir unsere ausgelegten Verankerungen bergen und hoffen, dass Wind und Eis uns auch dann wieder den Weg zum 79°-Nord-Gletscher gewähren.
Janin Schaffer