Der Nordostgrönländische Eisstrom transportiert enorme Eismengen aus dem Inselinnern zum Meer und beeinflusst damit auch den globalen Meeresspiegel. Ein internationales Forschungsteam unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts hat nun mit einer neuen Auswertungsmethode für luftgestützte Radarmessungen das Alter des eisigen Förderbands bestimmt. Demnach hat es sich erst vor etwa 2.000 Jahren bis ins Innere von Grönland ausgeweitet. Die Studie, die neue Möglichkeiten für die Erforschung von Eisschilden eröffnet, ist jüngst im Fachmagazin Nature Communications erschienen.
Die Massenbilanz des gewaltigen Grönländischen Eisschilds spielt eine entscheidende Rolle für den Anstieg des globalen Meeresspiegels. So verlor der Gigant zwischen 2002 und 2023 rund 270 Gigatonnen Eis pro Jahr, weil insgesamt mehr Masse durch Schmelzwasser und kalbende Gletscher ans Meer verloren ging, als durch Schneefall im Inneren der Insel neu hinzukam. Die globalen Pegel stiegen dadurch im Schnitt um knapp 0.8 Millimeter pro Jahr. Der Großteil des Verlustes findet dabei über einige wenige Eisströme statt – flussähnliche Gebiete innerhalb des Schildes, in denen sich solides Eis schneller in Richtung Meer bewegt als in der Umgebung. Einer dieser „Flüsse“ ist der Nordostgrönländische Eisstrom – kurz NEGIS (Northeast Greenland Ice Stream). Er reicht von der Küste rund 700 Kilometer ins Inselinnere.
„Wir haben mit dem Radar an Bord der Forschungsflugzeuge Polar 5 und 6 nun ins Innere des NEGIS geschaut“, erklärt Daniela Jansen, Glaziologin am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). „Die elektromagnetischen Wellen dringen dabei tief in das Eis ein, breiten sich bis zum Felsuntergrund aus und werden dort und an bestimmten Grenzflächen innerhalb des Eises reflektiert. Anhand von Laufzeit und Amplitude der reflektierten Signale konnten wir ein dreidimensionales Modell der inneren Struktur des Eisstroms erstellen. Darin ist erkennbar, wie der Strom die Eisschichten deformiert und faltet.“ Mithilfe der Deformationsmuster können die Forschenden rekonstruieren, wie sich der Strom entwickelt hat, und ab wann der Abfluss aus der Region beschleunigt wurde. Diese Informationen bleiben lange im Eis gespeichert.
Maßgeblich an der Studie beteiligt war auch Prof. Dr. Paul Bons, Strukturgeologe an der Universität Tübingen. Er hatte die Idee, die Daten zur Altersbestimmung des Eisstromes zu verwenden. Denn die reflektierenden Grenzschichten im Eis sind ehemalige Eisoberflächen, die jeweils zur gleichen Zeit entstanden sind. Diese Schichten gleichen Alters (Isochronen) lassen sich dank bekannter Daten aus Eisbohrkernen mit bestimmten Ereignissen – etwa Vulkanausbrüchen – in Verbindung bringen und so datieren. Mittels dieser datierten Grenzschichten wurden nun erstmals der Zeitpunkt von eisinternen Deformationsphasen ermittelt. „Mit dieser für die Anwendung im Eis völlig neuen Methode konnten wir bestimmen, dass der Eisstrom in der von uns untersuchten Region mit nur 2.000 Jahren vergleichsweise jung ist“, sagt Daniela Jansen. Die Ergebnisse widerlegen damit die in der Forschung weit verbreitete Annahme, dass sich der NEGIS in seiner heutigen Form ein stetiges Merkmal des Grönländischen Eisschildes ist.
„Eisströme können sich also deutlich schneller ausbilden als bislang gedacht“, erklärt die AWI-Glaziologin. „Entsprechend kann sich auch das Tempo, mit dem Eis von Eisschilden ins Meer fließt und letztlich den Meeresspiegel steigen lässt, sehr schnell erhöhen. Unsere Studie zeigt somit, dass man diese Ströme und deren Variabilität besser in Modelle einbauen muss, die den zukünftigen Meeresspiegelanstieg berechnen. Außerdem liefern wir einen ganz neuen strukturgeologischen Ansatz für die Altersbestimmung solcher Ströme. Wendet man ihn auf bereits vorhandene Daten an und plant ihn für künftige Feldforschung ein, eröffnet das viele Möglichkeiten, mehr über die Deformationsgeschichte der Eisschilde zu lernen.“
Originalpublikation:
Jansen, D., Franke, S., Bons P. et al. Shear margins in upper half of Northeast Greenland Ice Stream were established two millennia ago. Nat Commun 15, 1193 (2024). https://doi.org/10.1038/s41467-024-45021-8