Küstenerosion

Das Atlantis der Arktis

Die Jahre der Insel Muostakh sind gezählt: 100, 140, vielleicht noch 200, dann wird das Eiland vor der Küste Sibiriens von den Landkarten verschwinden. Wo heute noch 15 Meter hohe Steilküsten aus eisreichem, gefrorenem Grund dem Strom der Lena und den Wellen der Laptewsee die Stirn bieten, wird dann nichts mehr zu sehen sein. Der Grund: Küstenerosion. Muostakh büßt in jedem Jahr bis zu 20 Meter seiner Küste ein. Für Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts ist die kleine Insel deshalb ein idealer Ort, um zu erforschen, wie die steigende Temperatur und der Rückzug des arktischen Meereises den Küsten des Hohen Nordens zunehmend zusetzen.

„Wir hatten gerade die Kamera ausgeschaltet, als zwei Meter neben uns plötzlich ein Überhang abbrach und knapp 20 Meter in die Tiefe stürzte“, erzählt Dr. Thomas Opel, Geograf am Alfred-Wegener-Institut. Dieser Vorfall ereignete sich im Sommer 2012, als ein Filmteam des Rundfunks Berlin Brandenburg (rbb) die Arbeiten des AWI-Forscherteams auf der sibirischen Permafrost-Insel Muostakh begleitete.

Das bananenförmige Eiland liegt vor dem östlichen Lena-Delta. Es war im Sommer 2012 noch etwa 7,5 Kilometer lang und an seiner weitesten Stelle etwa 500 Meter breit. Muostakh besteht im Wesentlichen aus einem sehr eisreichen Kern, der an seiner Oberfläche von einer dünnen Bodenschicht überzogen ist. Ein arktischer Außenposten und einer jener Orte, dessen Küste aufgrund des Klimawandels so schnell zerfällt, dass die Forscher wie unter einem Brennglas zuschauen können. „Wir haben uns sehr geärgert, dass wir die Kamera nicht einfach haben weiterlaufen lassen. Der Abbruch wäre eine sehr eindrückliche Szene gewesen“, sagt Thomas Opel.

Dennoch, eine verpasste Szene war an jenem Tag das kleinste Übel. Denn wer oben auf der Steilklippe steht, erkennt nur schwer, welche Vorsprünge absturzgefährdet sind und welche nicht. Der größte Verlust, den das AWI-Team an diesem Tag zu beklagen hatte, war neben der Filmaufnahme eine Markierungsstange. Diese hatte Thomas Opels Kollege Frank Günther noch im Jahr zuvor als Stationierungspunkt für die Vermessung der Küstenerosion gesetzt. „Ich habe Frank noch am gleichen Tag eine E-Mail geschrieben, dass sein Markierungsstab heute abgestürzt und damit gestorben ist. Es kommt ausgesprochen selten vor, dass wir auf den Tag und sogar auf die Stunde genau sagen können, wann ein Stück Steilküste abbricht“, setzt Thomas Opel fort.

Verluste mit steigender Geschwindigkeit

In den vergangenen 60 Jahren hat Muostakh deutlich mehr als einen halben Kilometer seiner Nord-Süd-Ausdehnung verloren und damit fast ein Viertel seiner gesamten Fläche. Tendenz steigend: Betrachtet man die gesamte Insel, so hat sich in den Jahren 2010 bis 2013 die komplette Küste beinahe doppelt so schnell zurückgezogen als dies noch in den zurückliegenden  Jahren der Fall gewesen ist. Seit dem Jahr 2010 büßten große Abschnitte der Küste jährlich 3,4 Meter ein – zuvor waren es im Schnitt 1,8 Meter pro Jahr gewesen.

„Wir haben uns sehr hochauflösende Luft- und Satellitenbilder aus den Jahren 1951 bis 2013 angeschaut und diese mit den Sommertemperaturen und den offenen Wasserflächen vor der Küste verglichen“, sagt AWI-Geograf Dr. Frank Günther. Dabei konnten die Permafrost-Forscher erkennen, dass die sommerliche Durchschnittstemperatur und die Erosionsrate eng miteinander verknüpft sind. „Steigt die Durchschnittstemperatur im Sommer um ein Grad Celsius, beschleunigt sich die Erosion um 1,2 Meter pro Jahr“, erklärt Frank Günther.

Muostakh verliert allerdings nicht nur Fläche, sondern auch Volumen – insgesamt über 30 Prozent seit den 1950er Jahren. „Der Untergrund der Insel besteht zu über 80 Prozent aus Eis, das sich über Jahrtausende gebildet hat. Mit der steigenden Lufttemperatur vertieft sich die saisonale Auftauschicht an der Oberfläche und taut das darunterliegende Eis, wodurch die Inseloberfläche stark in sich zusammensinkt“, erläutert Frank Günther. 

 

Zwei Kräfte, die vereint auf die Insel einwirken

Die Wissenschaftler haben entdeckt, dass gleich zwei Prozesse auf die kleine Insel in der Laptewsee einwirken und ihre Eisklippen bröckeln lassen. „Zum einen liegt der Permafrost an den Steilküsten blank und ist der steigenden Lufttemperatur sozusagen schutzlos ausgeliefert. Dadurch taut er hier schneller, was dazu führt, dass sich die Landmasse immer weiter zurückzieht“, erklärt der AWI-Geograf. Zum anderen zehren die Wellen des Eismeeres und der Lena an Muostakhs gefrorenem Untergrund. „Früher schützte eine dicke Meereisdecke fast das ganze Jahr hindurch die Küsten vor der Erosion. Allein in den vergangenen drei Jahren aber ist die Zahl der eisfreien Tage pro Jahr stark gestiegen. Im Schnitt umtosen die Wellen Muostakh jetzt jährlich zwei Wochen länger als dies in den vergangenen 20 Jahren der Fall gewesen ist“, erklärt Dr. Paul Overduin, AWI-Spezialist für untermeerischen Permafrost, von dem Muostakh ebenfalls umgeben ist.

Die zwei zusätzlichen eisfreien Wochen und die steigende Lufttemperatur bergen noch eine weitere Gefahr für die Insel: Bis vor einigen Jahren wirkten die Tauprozesse und das offene Wasser zeitlich verschoben. Während der Boden den ganzen Sommer über taute und im späten August langsam wieder zu gefrieren begann, zog sich die Meereisdecke erst in den späten Sommermonaten zurück. Im frühen Herbst kehrte sie dann wieder zurück. Heute beginnen diese Prozesse sich in ihrer Abfolge mehr und mehr zu überlagern. „Das sind schlechte Nachrichten für Muostakh. Denn gemeinsam entfalten beide Prozesse eine noch stärkere Wirkung als jeder einzelne für sich genommen. Und sie sind äußerst effektiv darin, die Erosion der Insel voranzutreiben“, erklärt Frank Günther.

Muostakh – Sinnbild für die arktischen Küsten?

Für die AWI-Wissenschaftler stellt sich die Frage: Gilt der Zusammenhang zwischen temperaturbedingten Tauprozessen und der Erosion durch Wellen und Wind auch für andere Inseln in der Laptewsee oder sogar für weite Teile der arktischen Küste? „Einen Anstieg der Erosionsraten haben wir bereits auch an anderen Küstenabschnitten beobachten können. Aber Muostakh ist für uns wie ein kleines Labor. Hier können wir im Kleinen nicht nur beobachten, wie die Küstenerosion voranschreitet, sondern auch die beteiligten Prozesse besser untersuchen. Allerdings sind die Prozesse auf der Insel sehr beeindruckend und verleiten manchmal dazu, voreilig verallgemeinernde Rückschlüsse zu ziehen“, sagt AWI-Geochemiker Dr. Hanno Meyer.

„In der Vergangenheit haben sich viele Untersuchungen auf das Nordkap der Insel konzentriert. Unsere Luft- und Satellitenaufnahmen zeigen jedoch, dass die Erosionsrate dort mit langfristig 11, gegenwärtig 17 und episodisch sogar 39 Metern pro Jahr extrem hoch ist und weit über dem Durchschnitt der restlichen Insel liegt. Wenn wir unseren Blick auf die ganze Insel Muostakh richten, dann lassen sich die Prozesse hier auch mit denen an anderen Küstenabschnitten Sibiriens vergleichen“, fügt Frank Günther hinzu.

So steht das schwindende Muostakh zu einem gewissen Grad stellvertretend für eine Tausende Kilometer lange Küstenlinie und zahlreiche kleine Inseln, die durch Wind, Wellen und die warmen Sommer zusehends an Stabilität verlieren und sich zurückziehen. Jahr um Jahr verlieren sie Teile ihrer Landmasse an das arktische Eismeer. Und dennoch: Die meisten Inseln und Halbinseln werden noch für Jahrhunderte weiterbestehen – wenn Muostakh schon längst von den Land- und Seekarten verschwunden ist, die in einer dann möglicherweise eisfreien Nordostpassage von sicherlich bedeutend mehr Schiffen benutzt werden dürften.

(Kristina Bär)