Radio-Interview
Dr. Mario Hoppmann im Gespräch mit radioeins über Plättcheneis
Unter dem Meereis der Antarktis sammeln sich in einigen Regionen regelmäßig meterdicke Schichten aus filigranen Eisplättchen. Dieses Plättcheneis ist ein eigener und ganz spezieller Lebensraum, in dem Algen gedeihen und kleine Krebstiere Zuflucht finden. Der AWI-Meereis-Spezialist Mario Hoppmann arbeitet zusammen mit seinen Kollegen an einer neuen Methode, um das Plättcheneis zu vermessen. Damit will er insbesondere herausfinden, welche Bedeutung es für das Meereis der gesamten Antarktis hat.
Unter dem Meereis der Antarktis sieht es vielerorts aus wie in einem Caipirinha-Cocktail. Dicht an dicht treiben im Wasser unter der Eisdecke ungeheure Mengen an Eiskristallen. In einem Cocktailglas steht das „crushed ice“ freilich nur ein paar Zentimeter hoch. In der Antarktis hingegen erreicht die wabernde Eismasse jährlich Dicken von mehreren Metern. Und noch einen Unterschied gibt es: Das Eis besteht anders als im Cocktail nicht aus Klümpchen, sondern aus Millionen zerbrechlicher Plättchen und Platten. Greift ein Taucher in die Masse hinein, scheint es, als rühre er in einem treibenden Haufen Glasscherben.
Aus diesem Grund haben Forscher diese wundersame Eismasse schon vor Jahrzehnten Plättcheneis getauft. Trotzdem gab sie ihnen immer wieder Rätsel auf, denn die Wissenschaftler stießen hier und da nur eher zufällig auf die Plättchen – zum Beispiel wenn sie das Packeis durchbohrten, um die Dicke zu messen oder Eiskerne zu gewinnen. Wirklich von Interesse war das Plättcheneis lange Zeit nicht.
Das Plättcheneis zu filmen oder zu fotografieren, ist schwierig, weil nur wenig Licht durch das antarktische Meereis dringt. Die AWI-Forschungstaucher haben es trotzdem versucht und uns diese Aufnahmen von ihren Tauchgängen aus der Atka-Bucht mitgebracht. Quelle: Alfred-Wegener-Institut/Tauchzentrum
Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Nicht zuletzt, weil Forscher entdeckten, dass im Plättcheneis das Leben geradezu tobt. Kleine Fische und Krebse suchen im Labyrinth der Plättchen Schutz vor Feinden. Sogar Seeanemonen, Nesseltiere, die für gewöhnlich auf Steinen und festem Untergrund Halt finden, lassen sich auf den Plättchen nieder und treiben mit ihnen dahin. Hinzu kommen unzählige Algen, die auf der Oberfläche der Plättchen gedeihen und Nahrung für viele andere Lebewesen sind. „Die Plättchen liegen dicht an dicht aneinander und bilden damit insgesamt eine riesige Oberfläche, auf der die Algen wachsen – das macht den Lebensraum Plättcheneis extrem produktiv“, sagt der AWI-Meereisphysiker Mario Hoppmann.
Mehr noch als für die Biologie interessiert sich der Forscher für das Eis an sich. „Mein Ziel ist, dieses Phänomen besser zu verstehen – und die Bedeutung einzuschätzen, die das Plättcheneis für den gesamten Eishaushalt der Antarktis hat.“ Der könnte beträchtlich sein, denn die Masse des Plättcheneises ist nicht zu vernachlässigen.
Für seine Doktorarbeit war Mario Hoppmann im Jahr 2012 für mehrere Wochen in der Antarktis, um das Plättcheneis zu untersuchen. Das Revier der AWI-Forscher ist vor allem das Weddellmeer in der Umgebung der Neumayer-Forschungsstation. Diese steht in der Nähe der gut 25 Kilometer breiten Atka-Bucht. Von früheren Untersuchungen war bekannt, dass unter dem festen Eis der Atka-Bucht Plättcheneis zu finden ist. „Es gab aber nur punktuelle Nachweise für Stellen, an denen man Löcher gebohrt hatte“, sagt Hoppmann. „Unklar war, wie weit das Plättcheneis verbreitet und wie variabel dessen Schichtdicke ist.“
Während der Expedition im Jahr 2012 hatten die Meereis-Experten ein neues Messgerät dabei – ein sogenanntes Multifrequenz-EM. EM steht für „Elektro-Magnetisch“ und ist eine Abkürzung für „elektromagnetische Induktionsmessung“. Dabei handelt es sich um ein physikalisches Verfahren, mit dem Wissenschaftler die Dicke von Meereis messen können, ohne aufwändig Löcher bohren zu müssen. Es gibt am AWI seit einigen Jahren sogar ein EM, das von Hubschraubern und Flugzeugen geschleppt, aus der Luft große Eisflächen vermessen kann. Das Problem: Dieses altbewährte Gerät kann zwar die Dicke massiven Meereises sehr gut messen, allerdings noch nicht das Plättcheneis selbst.
Mit dem neuen Multifrequenz-Gerät war das aber durchaus möglich. Denn es vermisst den Untergrund nicht nur mit einer Frequenz, so wie die bisherigen Geräte es tun, sondern mit mehreren Frequenzen. Auf diese Weise lässt sich das Eis sehr viel genauer und vielfältiger analysieren. „Wir waren gespannt, wie viel mehr Information wir mit dem Multifrequenz-EM gewinnen würden – und wir hofften, dass es gelänge, das Plättcheneis tatsächlich zu messen.“
Um große Flächen der zugefrorenen Atka-Bucht schnell erfassen zu können, legten die Forscher das Multifrequenz-EM in ein Kajak, das sie an ein Skidoo, ein Schneemobil, hängten. Die Forscher fuhren mit dem Gespann tagelang über das Eis der Atka-Bucht. „Das klingt sehr bequem, aber es ist in Wirklichkeit auch ganz schön anstrengend“, sagt Mario Hoppmann. „Man muss ständig Schneewehen und Presseisrücken ausweichen, an denen sich Eisschollen teilweise mehrere Meter hoch aufwerfen, und immer wieder einmal fällt das Kajak um oder verhakt sich an Eisnasen. Ein Tempo von viel mehr als zehn Kilometer pro Stunde ist nicht drin.“ An manchen Tagen waren die Forscher 15 Stunden mit dem leuchtend gelben Skidoo und dem Kajak im Schlepptau unterwegs.
Ein EM nimmt die Eisdicke wahr, indem es die elektrische Leitfähigkeit des Untergrundes misst. So unterscheidet sich etwa die Leitfähigkeit festen Meereises deutlich von der des salzigen Meerwassers darunter. Ein EM kann auf diese Weise den Übergang von Meereis zu Wasser leicht erspüren und ermöglicht den Forschern, die Dicke des Eises recht genau zu bestimmen. Der Übergang von Meereis zum Plättchen-Eis aber ist deutlich unschärfer. Das alte EM konnte diesen Übergang nicht sauber abbilden; das Multifrequenz-EM hingegen sehr wohl. „Unsere Ergebnisse haben uns selbst überrascht. Mit dem neuen Gerät ist es uns tatsächlich gelungen, die Dicke der Plättcheneis-Schicht relativ genau zu bestimmen. „Bei unseren Feldmessungen in der Atka-Bucht haben wir eine durchschnittliche Schichtdicke von etwa fünf Metern beobachtet, an einigen Stellen war das Plättcheneis sogar bis zu zehn Meter dick“, sagt Mario Hoppmann.
Hinzukommt: Die Forscher können jetzt auch das Volumen der Plättcheneis-Schicht errechnen, indem sie die Menge des Meerwassers zwischen den Plättchen bestimmen und subtrahieren. Mario Hoppmann: „Um die Methode abzusichern, haben wir zusätzlich an zahlreichen Stellen das Meereis durchbohrt und die Schichtdicke an Ort und Stelle per Hand gemessen.“ Und das war schwieriger, als erwartet. Denn immer wieder verkeilten sich zwischen den Eisplatten die Gewichte, an denen die Forscher ihr Maßband in die Tiefe gleiten lassen.
Auch andere Forscher und die Überwinterer an der Neumayer-Station III waren für Mario Hoppmann in den vergangen drei Jahren immer wieder einmal mit dem EM-Kajak unterwegs. „So konnten wir Daten sammeln, die belegen, dass das Plättchen-Eis in der Atka-Bucht einen Jahresrhythmus hat“, sagt Mario Hoppmann.
Im Juni, zu Beginn des antarktischen Winters, sammeln sich unter dem Meereis die ersten Plättchen. Im Laufe des Winters wächst die Schicht, bis sie zum Beginn des antarktischen Sommers im Dezember mehrere Meter dick ist. Während des Winters gewinnt auch das feste Meereis darüber an Dicke und friert im Zuge seines Wachstums einen Teil der Plättchen ein. Erst wenn im Sommer die Wassertemperatur wieder steigt, schrumpft auch die Plättcheneis-Schicht langsam.
Die AWI-Forscher sind überzeugt, dass die Plättchen im Eisregime der Antarktis eine große Rolle spielen. Immerhin ist das Meereis der Atka-Bucht im Schnitt nur zwei Meter mächtig. Die Plättcheneisschicht darunter hingegen misst mehrere Meter. Eine beträchtliche Menge des Eises liegt also in Form von Plättchen vor. Und das gilt nicht nur für die Atka-Bucht, denn Plättcheneis kommt auch in vielen anderen Schelfeisgebieten rund um die Antarktis vor und entsteht jedes Mal auf dieselbe Art und Weise.
Dr. Mario Hoppmann im Gespräch mit radioeins über Plättcheneis
Die Atka-Bucht und die Neumayer-Station liegen beide am sogenannten Ekström-Schelfeis. Dabei handelt es sich um ein etwa 80 mal 120 Kilometer großes Eisgebiet, das fest mit dem Land verbunden ist und auf dem Wasser schwimmt. Es liegt über dem flachen Teil des antarktischen Kontinentalhangs, der als Schelf bezeichnet wird. Der Kreislauf des Plättcheneises beginnt hier, indem salzreiches Wasser aus dem küstennahen Ozean absinkt, unter das Schelfeis gleitet und dieses an seiner Unterseite langsam anschmilzt. Die Folge: Aus dem Gletschereis wird Süßwasser, welches sich an der Schelfeisunterseite mit dem salzhaltigen Ozeanwasser vermischt. Eigentlich müsste dieser Wassermix auf der Stelle gefrieren, denn das Wasser unter dem Schelfeis ist etwa minus zwei Grad Celsius kalt. Aufgrund des hohen Wasserdrucks in der Tiefe aber bleibt der Mix zunächst flüssig – Physiker sprechen von einem „potentiell unterkühlten“ Zustand.
Da diese Wassermasse jedoch eine geringere Dichte als das umgebende Meerwasser hat, steigt sie langsam an der Schelfunterseite entlang auf. Der Wasserdruck sinkt. Und irgendwann passiert es: Ein Krümelchen, ein Kondensationskeim genügt, und plötzlich beginnt das Wasser zu gefrieren. Es bilden sich kleine Kristalle, die schließlich zu dünnen Plättchen und sogar Platten anwachsen. Diese steigen am Schelfeis höher und höher, bis sie schließlich unter dessen Eiszunge hervorgespült werden und sich unter dem festen Meereis der Atka-Bucht ansammeln.
Dieses Phänomen hatten erstmals die Südpolarforscher der Terra-Nova-Expedition (1910-1913) entdeckt, auf der später der Abenteurer Robert Falcon Scott und seine Mitstreiter auf dem Weg zum Südpol starben. Während ihrer Schiffsreise entlang des Schelfeises hatten die Entdecker damals Seile tief ins Meer hinabgelassen und beobachtet, dass sich an ihnen plötzlich Eisklumpen bildeten. Für die Leute um Scott war diese Blitz-Vereisung ein Rätsel. Heute weiß man, dass damals vermutlich unterkühltes Wasser am Seil gefror.
Mit dem Vereisungsproblem aber kämpfen die Forscher auch heute noch. „In solchen Meeresgebieten kann man einfach kein Messgerät ins Wasser lassen, ohne dass es gleich komplett zufriert“, sagt Mario Hoppmann. Plättcheneis am Stiel kann einem Meereisphysiker das Forscherleben ganz schön schwer machen.
Die Untersuchungen des Plättcheneises in der Atka-Bucht sowie die vielen wichtigen Forschungserkenntnisse wären niemals möglich gewesen, wenn nicht eine Vielzahl von Helfern zum Gelingen des Meereis-Forschungsprogrammes beigetragen hätten. Mario Hoppmann: „Wir konnten stets auf die Hilfe der Kolleginnen und Kollegen aus der AWI-Logistik und Wissenschaft zählen. Allen voran aber gilt unser Dank den tapferen Überwinterer-Teams an der Neumayer-Station III. Sie haben selbst bei unerbittlichen minus 40°C und in der Dunkelheit der Polarnacht den Bohrer in die Hand genommen und für uns Daten gesammelt. Ein großes Dankeschön dafür.“