Schleswig-holsteinisches Wattenmeer
Das Seegras ist zurück
Mehrere Jahrzehnte lang wuchs im schleswig-holsteinischen Wattenmeer kaum noch Seegras - eine Pflanze, die für Jungfische und Zugvögel besonders wichtig ist. Vor allem die Überfrachtung der Nordsee mit Nährstoffen machte ihr zu schaffen. Aktuelle Studien von AWI-Forschern aber haben ergeben, dass sich die Seegrasflächen zuletzt wieder ausgedehnt haben. Das ist eine gute Nachricht, die weltweit Signalwirkung haben könnte. Zeigt sie doch, dass sich ein Meereslebensraum durch Umweltschutzmaßnahmen erholen kann.
Seegras? Richtig gelesen. Gras wächst auch im Meer. Natürlich handelt es sich dabei um andere Pflanzen als jene, die an Land gedeihen. Aber das Seegras ist diesen durchaus ähnlich. Es bildet Wurzeln, mit denen es sich fest im Boden verankert; und wie bei einem Rasen kann es große Flächen dicht bewachsen. Seegras wächst in vielen flachen, sandigen Küstengewässern der Erde - an der Küste des Südchinesischen Meeres oder der USA und im Wattenmeer an der Nordsee. Trotzdem sind Seegraswiesen bei weitem nicht so bekannt wie andere Lebensräume der Küsten - Korallenriffe oder Mangrovenwälder zum Beispiel. Dabei sind Seegrasbestände ausgesprochen wichtig. Zahllose Schnecken leben darin, die Algen vom Seegras abweiden. Junge Fische finden in den Seegraswiesen Schutz vor Feinden. Und manche Zugvögel wie die Ringelgänse sind auf das Seegras als Futter angewiesen. Weil es so wichtig ist, schlagen inzwischen viele Forscher Alarm, denn an vielen Küsten schrumpfen die Seegrasbestände - weltweit verschwindet ein Lebensraum.
Gute Nachrichten aus dem Wattenmeer
Ganz anders klingen da die Nachrichten aus dem nordfriesischen Wattenmeer: Nachdem die Seegraswiesen zwischen Sylt und der Halbinsel Eiderstedt zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren auf ein Viertel ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft waren, haben sich die Bestände zuletzt wieder erholt. Die Seegraswiesen sind so groß und dicht wie lange nicht. "Das sind wirklich einmal gute Nachrichten, die zeigen, dass sich ein Lebensraum erholen kann, wenn man ihm die Chance dazu gibt", sagt der Geograph Tobias Dolch von der AWI-Wattenmeerstation in List auf Sylt. Zusammen mit dem AWI-Biologen Christian Buschbaum hat er in den vergangenen Jahren die Seegrasbestände im Schleswig-Holsteinischen Wattenmeer flächendeckend erfasst - und mit Luftaufnahmen aus den 1930er- und 1950er-Jahren verglichen. Finanziert wird die Forschung durch zwei Behörden, dem Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume Schleswig-Holstein (LLUR) sowie dem Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein (LKN) - Nationalparkverwaltung.
Ihr Ergebnis lässt aufatmen: Dem Seegras geht es heute wieder so gut geht wie zuletzt in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Tobias Dolch und Christian Buschbaum führen das vor allem darauf zurück, dass sich die Wasserqualität in der Deutschen Bucht verbessert hat - insbesondere was den Eintrag der Pflanzennährstoffe Phosphat und Stickstoff über die Flüsse betrifft. Beide verstärken im Meer das Algenwachstum, was für das Seegras schlecht ist: Denn bei hoher Nährstoffkonzentration gedeihen kleine Algen, die die Seegrasblätter überwuchern. Das führt dazu, dass das Seegras weniger Licht erhält und verkümmert.
Zu viele Nährstoffe
Vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren gelangten große Mengen an Phosphor und Stickstoff mit dem Wasser von Elbe, Weser und Rhein in die Nordsee. Die Stickstoffe stammten vor allem aus der Landwirtschaft, aus Gülle und Kunstdünger. Das Phosphat stammte zum Teil ebenfalls aus Kunstdünger, zum anderen aber auch aus Waschmitteln, denen es damals als Enthärter zugesetzt wurde. Durch ein Verbot von Phosphat in Waschmitteln und eine Aufrüstung der Kläranlagen konnten die Phosphatmengen im Abwasser seit Ende der 1980er-Jahre deutlich verringert werden. Durch Auflagen für die Landwirtschaft und bessere Düngemittel sank auch der Eintrag von Stickstoff. "Es hat mehr als zehn Jahre gedauert, bis sich diese Maßnahmen in der Natur widerspiegeln", sagt Tobias Dolch. "Aber unsere Bestandsschätzungen zeigen uns deutlich, dass sich die Seegrasbestände seit Ende der 1990er-Jahre erholt haben." Nahm das Seegras im Nordfriesischen Wattenmeer zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren nur etwa eine Fläche von 30 bis 40 Quadratkilometern ein, was in etwa der Größe der Insel Pellworm entspricht, so waren es 2010 bereits 142 Quadratkilometer.
Die Forscher gehen davon aus, dass die Seegrasbestände in Nordfriesland heute sogar eine etwas größere Ausdehnung als früher haben. Das zumindest legt der Vergleich mit den historischen Luftaufnahmen aus den 1930er-Jahren und 1950er-Jahren nahe: Das Seegras hat dieselben Flächen wie damals wiederbesiedelt und sich teils darüber hinaus ausgedehnt. Erstaunlich ist, dass die Flächen sogar dieselbe Form wie damals haben. "Wir nehmen an, dass das auf die Strömungsbedingungen im Wattenmeer zurückzuführen ist", sagt Christian Buschbaum. "So wächst Seegras vor allem im Schutz der Inseln und großen Sände, und deren Lage hat sich über die Jahrzehnte wenig verändert." Offene Flächen mit starkem Wellengang und starker Sedimentbewegung meidet das Seegras hingegen.
Warum sind Seegraswiesen wichtig?
Seegraswiesen übernehmen wichtige Funktionen im Wattenmeer. Sie halten zum Beispiel mit ihrem Geflecht aus Wurzeln und Rhizomen den Sandboden fest und bieten Fischen wie Heringen, Hornhechten und dem Ährenfisch ein sicheres Versteck für ihren Laich. Selbst bei Ebbe hält der dichte Blattteppich einer Seegraswiese eine wenige Zentimeter dicke Wasserschicht zurück. Sie sorgt dafür, dass der Laich dieser Fischarten nicht austrocknet und sich geschützt vor Räubern entwickeln kann. In den Seegraswiesen leben zudem viele Kleinkrebse und Schwebgarnelen, deren Vorkommen wiederum zahlreiche Klein- und Jungfische wie die Kleine Strandgrundel anlockt. Dieser Fisch kommt im Schutze der Seegraswiesen deutlich häufiger vor als auf seegrasfreien Wattflächen.
Mühevolle Bildanalyse
Die Erfassung der Seegrasbestände war für die Forscher aus mehreren Gründen eine Herausforderung. So lagen aus den 1930er-Jahren nur Schwarz-Weiß-Aufnahmen vor. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Wissenschaftler gelernt hatten, in all den Grautönen das Seegras zu erkennen. Für den historischen Vergleich nutzten die Forscher auch aktuelle Luftaufnahmen, die Tobias Dolch und seine Kollegen bei Flügen selbst geschossen hatten. Hier bestand die Herausforderung darin, das grüne Seegras von Flächen zu unterscheiden, die von Grünalgen bewachsen waren. Tobias Dolch: "Um uns zu eichen, haben wir zu Fuß viele Stellen im Wattenmeer aufgesucht, um nachzuprüfen, ob es sich um Seegras oder Grünalgen handelt - so haben wir uns langsam an die Fotos herangepirscht und die Grüntöne immer besser interpretieren können." Die Arbeit im Watt war auch wichtig, um abschätzen zu können, wie dicht das Seegras wächst. Denn auch das ist ein Zeichen für den Zustand der Seegrasbestände. Wachsen sie dicht, geht es ihnen besser. Aus dem Flugzeug aber lässt sich das nur grob erkennen.
Ob allein die bessere Wasserqualität zur Rückkehr des Seegrases beigetragen hat, wissen die Forscher nicht. Sie sind sich aber sicher, dass dies ein Hauptgrund ist. Das lässt für andere Seegrasbestände auf der Welt hoffen. In vielen Regionen, vor allem in den Schwellenländern, gelangen heute durch die intensive Landwirtschaft aber auch durch Aquakulturanlagen überschüssige Nährstoffe ins Meer. Die Situation ist durchaus mit der in den 1980er-Jahren in Westeuropa vergleichbar. "Jetzt sehen wir, dass sich die Situation wieder bessert, wenn man den Druck von den Küstengewässern nimmt und dem Seegras Zeit gibt - offensichtlich dauert es aber eine ganze Weile, bis sich der Lebensraum erholt", resümiert Tobias Dolch.
Erfreulich ist auch, dass Experten heute weltweit ein Auge auf das Seegras und die Qualität des Meerwassers haben. Das war in den 1970er-Jahren in Europa noch deutlich anders. Es gab nur wenige Experten, die das Verschwinden des Seegrases bemerkten und dokumentierten. Einer von ihnen war Karsten Reise, der die Wattenmeerstation auf Sylt viele Jahre geleitet hat. "Ich habe 1978 eine erste Befliegung des Schleswig-Holsteinischen Wattenmeeres gemacht und erkannte, dass die Bestände ausgesprochen kümmerlich waren", sagt der Biologe. "Seegras war damals kaum erforscht. Das Interesse galt eher den Muschelbänken oder dem Leben im Wattboden. Nicht den mickrigen Seegrasbeständen."
Statt des Seegrases machten sich in den 1980er-Jahren verschiedene Arten von Grünalgen breit, bemerkte Karsten Reise. Zum Teil überdeckten sie auch die Seegrasflächen. Für Karsten Reise war das ein Alarmsignal. "Es wurde deutlich, dass die Grünalgen von den Nährstoffen profitierten und extrem schnell wuchsen, während das Seegras langsam verschwand." Mit Unterstützung durch das Umweltbundesamt begann Karsten Reise in den 1990er-Jahren, die Wattflächen zu kartieren - sowohl die Grünalgen als auch das Seegras.
Messgröße für die Qualität des Wassers
Ein Schub bekam diese Forschung mit der Wasserrahmenrichtlinie, die Mitte der 1990er-Jahre angeschoben und im Jahr 2000 verabschiedet wurde. Diese legte erstmals Ziele für eine nachhaltige Wassernutzung und den Schutz der Gewässer fest. Für die Richtlinie benötigte man auch Indikatoren, an denen sich der Zustand der Gewässer messen ließ. Dafür war das Pärchen Grünalge/Seegras geradezu perfekt, weil die Grünalge ein Zuviel an Nährstoffen anzeigt, das Seegras hingegen eine geringe Nährstoffbelastung. Im Laufe der Jahre sammelten sich in der AWI-Wattenmeerstation viele Daten zum Seegras an, die Tobias Dolch jetzt durch seine Fleißarbeit komplettiert hat. "Es war gar nicht so leicht, historische Aufnahmen vom Wattenmeer in ausreichender Qualität zu finden - wir mussten dafür in verschiedenen Bibliotheken und Archiven suchen", sagt Tobias Dolch. "Und ich bin sicher, dass es an verschiedenen Stellen noch eine ganze Reihe vielversprechender Luftaufnahmen gibt."
Für Tobias Dolch, Christian Buschbaum und Karsten Reise ist die Geschichte des Seegrases in Schleswig-Holstein eine Episode, die Mut macht. "Viele Jahre lang hat man beim Wattenmeer und der Nordsee vor allem die Probleme im Fokus gehabt", sagt Karsten Reise. Es sei aber durchaus sinnvoll, diese Region als wertvollen Naturraum zu betrachten und als solchen zu kommunizieren. "Irgendwann kam ich auf die Idee, die Seegrasbestände an allen europäischen Küsten miteinander zu vergleichen - nirgendwo gibt es so große Flächen wie bei uns. Das ist etwas Besonderes." Gleichwohl weiß er, dass noch einiges zu tun ist. Denn obgleich die Nährstoffmengen, die über die Flüsse in die Nordsee gelangen, abgenommen haben, ist längst nicht alles perfekt. "Die Stickstoffbelastung ist noch immer viermal größer als in vorindustrieller Zeit", sagt Karsten Reise. "Diese Werte ließen sich weiter verringern, wenn man den Eintrag aus der Landwirtschaft weiter reduzierte." Was sich dadurch erreichen lässt, zeigt die Seegrasgeschichte. Vielleicht ist sie ein Beispiel, das weltweit Schule machen wird.