Eine Ehe für die Wissenschaft

Seit 72 Jahren ist Irmtraut Hempel mit dem Gründungsdirektor des Alfred-Wegener-Instituts, Gotthilf Hempel, verheiratet. Die promovierte Biologin war stets mehr als die Frau an der Seite des Professors, hat ihn vor einigen Dummheiten bewahrt und fuhr als eine der ersten Frauen auf deutschen Forschungsschiffen. In diesem September wird sie 100 Jahre alt.

Von Roland Koch, Juni 2024

„Seekrank zu sein, war bei mir gar nicht so schlimm. Mir ging es ein paar Tage schlecht und dann waren die nächsten Wochen einer Expedition einfach nur wunderbar.“ Die Frau, die das erzählt, ist 99 Jahre alt und war in ihrem langen Leben auf vielen Meeren unterwegs. Sie hat Stürme auf hoher See erlebt, das Eis der Pole gesehen und so manchen Seefahrer beobachtet, der das Auf und Ab der Wellen nicht so leicht weggesteckt hat wie sie. An einem warmen Tag im Sommer 2024 sitzt sie neben ihrem Mann auf dem grünen Sofa im gemeinsamen Wohnzimmer eines Einfamilienhauses. Die Sonne strahlt vom Himmel und ein rosafarbener Rosenbusch auf der Terrasse zeigt sich in voller Blütenpracht.

Wenige Minuten zuvor sind wir in unserem Mietwagen in die beschauliche Siedlung in Molfsee eingebogen. Die kleine Gemeinde liegt wenige Kilometer südlich von Kiel. In einer Seitenstraße steht der rot-braune Klinkerbau aus den 60er Jahren, umgeben von einem blühenden Garten. Ein paar Stufen führen hinauf zur Eingangstür.

Gotthilf Hempel empfängt uns mit einem freundlichen Lächeln. Der Gründungsdirektor des Alfred-Wegener-Instituts ist es gewohnt, Gäste zu begrüßen. Er kennt das große wissenschaftliche und politische Parkett. Vier wissenschaftliche Institute hat er in seinem Leben gegründet, hunderte Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Doktoranden gehabt. Expeditionen in die Arktis und Antarktis, in den Nordatlantik und ins Rote Meer geleitet. Doch heute hat er eine ungewohnte Rolle. Wir sind gekommen, um mit seiner Frau und ihm darüber zu sprechen, wie sich eine solche Karriere aus der Sicht der Wissenschaftlerin und Ehefrau an seiner Seite darstellt. Der Anlass für diese Geschichte? Der bevorstehende 100. Geburtstag von Irmtraut Hempel am 24. September 2024.

„Wissen Sie, eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust, dieses Gespräch mit Ihnen zu führen“, wird sie uns später verraten. Aber da haben wir dann schon drei Stunden länger miteinander gesprochen als ursprünglich geplant. Denn nachdem die beiden auf dem „Anstandssofa“ Platz genommen haben, dauert es nur wenige Minuten und ein ganzes Jahrhundert Leben wird vor unseren geistigen Augen ausgerollt. Die beiden baugleichen Rollatoren sind neben dem Sofa geparkt. Gekennzeichnet sind sie mit einem roten Band für sie und einem blauen für ihn, damit es keine Verwechslung gibt. Eine Partnerschaft auf Augenhöhe nach 72 Ehejahren. Die Rollen dabei waren unterschiedlich, nicht untypisch für ihre Zeit. Untypisch aber war wohl das, was Irmtraut und Gotthilf Hempel daraus gemacht haben.

Irmtraut Schneider wuchs in Berlin und Caputh bei Potsdam auf, wo ihre Familie am Ende des Krieges alles Hab und Gut verloren hatte. Doch Hab und Gut waren ihr damals gar nicht so wichtig. „Nach drei Jahren Arbeits- und Militärdienst war ich neugierig und wollte wissen, was eine Universität ist“, erzählt sie. „Ich stamme aus einer nicht-akademischen Familie und wollte das Universitätsleben kennenlernen.“ Um das zu finanzieren, nahm sie diverse Hilfstätigkeiten an, spendete Blut, putzte bei den Professoren und riss Eintrittskarten im Kino ab. So sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben Krimis, die ihr gar nicht gefielen, konnte aber ab 1946 ein Vorsemester an der Uni Heidelberg, den Wechsel an die Uni München und – vier Semester später - die Rückkehr an die Uni Heidelberg finanzieren.

Das Geld war immer noch knapp, aber die Biologie mit dem Schwerpunkt Zoologie blieb ihre Leidenschaft. Nebenbei hörte sie Philosophievorlesungen bei Karl Jaspers. 1951 legte sie ihre Diplomprüfung ab. Ende der 40er Jahre lernte sie einen Studenten kennen, den „besten“ seines Faches, wie er ihr damals von ihrem Professor vorgestellt wurde. Sein Äußeres wollte allerdings so gar nicht dazu passen. Fürchterlich abgemagert und von Asthma geplagt, gab er wohl zunächst kein überzeugendes Bild für die junge Frau ab. Schließlich konnte er sie mit Humor und Wissen aber doch von sich überzeugen. Nur die Leidenschaft für ihn kam damals sehr kurz, erzählt Gotthilf Hempel heute. „Sie war so wissbegierig und neugierig, da blieb für mich recht wenig Zeit.“ Die Promotionen der beiden folgten Anfang 1952.

Kurz vor ihrem 28. Geburtstag heiratete Dr. Irmtraut Schneider dann den dreiundzwanzigjährigen Gotthilf Hempel. „Unsere Eltern waren wegen des Altersunterschieds skeptisch, doch das war damals gar nicht so ungewöhnlich“, erzählt sie. „So viele Männer in meinem Alter waren im Krieg umgekommen. Der Heiratsmarkt war klein. Wir Frauen heirateten oft deutlich jüngere oder ältere Männer.“ Die dreitägige Hochzeitsreise verbrachten die beiden im Weserbergland.

Und dann wurden die beiden Jungs geboren, 1955 und 1960. „Da ging ein großer Herzenswunsch von mir in Erfüllung“, erzählt sie. „Die wissenschaftliche Arbeit rückte zunächst in den Hintergrund, ganz losgelassen hat sie mich aber nie.“ Die Familie verbrachte die Sommer 1959 und 1960 auf Helgoland. Dort war Gotthilf Hempel mittlerweile bei der Biologischen Anstalt angestellt. 1963 folgte seine Habilitation an der Uni Hamburg. 1964 wurde er „Wissenschaftlicher Rat“ am dortigen Institut für Hydrobiologie und Fischereiwissenschaft. Also zog die Familie in die Hansestadt. Und so ging es weiter: Nach „Auslandsstationen“ in den USA, Frankreich und Italien wurde der junge Professor an das Institut für Meereskunde an der Uni Kiel berufen. Im nahegelegenen Molfsee fand die Familie ein halbfertiges Haus. Die Hempels bauten es zum Eigenheim aus, in dem „die Alten“ noch heute wohnen.

Der Familiensitz bedeutete jedoch nicht, dass das turbulente Leben aufhörte. Gotthilf Hempel kletterte weiter die Karriereleiter hinauf. 1981 wurde er Gründungsdirektor des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven. Eine Zweitwohnung musste also her in der Stadt an der Wesermündung. Anfang der neunziger Jahre wurde er Direktor des Instituts für Ostseeforschung in Rostock-Warnemünde und gründete das Zentrum für Marine Tropenökologie in Bremen und das Institut für Polarökologie der Universität Kiel. Er sammelte Ämter in nationalen und internationalen Gremien, blieb aber weiter Kieler Professor. Die „Polarstern“ wurde ein Jahrzehnt lang sein zweites Zuhause.

„Meine Frau hat mich auf all diesen Stationen kritisch begleitet. Wir haben viel über meine Arbeit gesprochen. Dabei hat sie mir gegenüber nie ein Blatt vor den Mund genommen und mich vor einigen Dummheiten bewahrt“, erzählt Gotthilf Hempel. Und seine Frau fügt hinzu: „Mir war vor allem das Zwischenmenschliche wichtig. Neben aller Erkenntnis und Wissenschaft sind wir doch vor allem Menschen, die gut miteinander auskommen müssen.“

Das alles hieß aber auch, dass der Vater und Ehemann selten zu Hause war. Es bedeutete aber nicht, dass sie ganz auf die Wissenschaft verzichtete. Sie war Mitherausgeberin der „Biologie der Polarmeere“, der „Berichte der Deutschen Wissenschaftlichen Kommission für Meeresforschung“ und später von „Polar Biology“. Sie tat das ehrenamtlich oder für ein Taschengeld. „So war das eben damals für viele Frauen“, erzählt sie. Als die beiden Söhne, Christoph und Peter, größer waren, konnte Irmtraut Hempel wieder mehr Zeit in die Wissenschaft stecken und wurde schließlich eine der ersten Frauen, die in der damaligen Männerdomäne Meeresforschung auf Expedition gehen konnte.

„Bis Anfang der Siebzigerjahre hieß es, Frau an Bord bringt Unglück‘. Doch wir Frauen zeigten, dass das Quatsch ist“, erzählt Irmtraut Hempel. „Wir begannen in der Zeit als Wissenschaftlerinnen mitzufahren. Gotthilf machte dafür so manchen Weg frei. Das war ein tolles Gefühl, endlich dabei zu sein, wenn Proben eingeholt wurden. Ich arbeitete damals mit Krill-Larven. Sie selbst fangen zu können, war großartig.“ Denn in den Jahren zuvor bekamen die Frauen die Proben immer erst im Labor zu sehen, als in Formol eingelegte Exemplare, die die Männer von ihren Reisen mitgebracht hatten.

Positiv überrascht war Irmtraut Hempel davon, wie reibungslos und respektvoll das Miteinander auf den langen Schiffstouren war. „Wir hatten ja keine Erfahrungen damit, wie es sein würde, so lange mit Männern auf einem Schiff zusammen zu sein. Und da gab es vorab schon die eine oder andere Befürchtung.“ Doch keine davon sollte sich bewahrheiten. „Die Männer benahmen sich anständig und wir hatten eine spannende und wissenschaftlich lehrreiche Zeit miteinander.“ So kam es, dass auch Irmtraut Hempel in ihrem Leben an vielen langen Reisen und Expeditionen teilnahm, innerhalb Europas, in die USA, nach Asien, Südafrika, fünfmal auf der “Polarstern“ und einmal auf der „Meteor“.

Lehrreich wurden die Expeditionen auch für die Schiffsbesatzung. Denn die Frau Doktor bot der Crew an, die wissenschaftliche Arbeit an Bord in kleinen allgemeinverständlichen „Vorlesungen“ zu erklären. „Mir war immer wichtig, dass die Leute verstehen, was sie machen, wozu es beispielsweise gut ist, wenn das Schiff stunden- oder gar tagelang an derselben Stelle liegen musste.“

Wenn das Ehepaar Hempel auf Forschungsreise war, sprang zu Hause Tante Käthe ein, die die Kinder hütete. „Einmal bauten die beiden Jungs Mist, sie fuhren zu zweit auf dem Fahrrad und wurden dabei erwischt. Als der Polizist sie fragte, wo ihre Eltern seien, antworteten sie ‚in der Antarktis‘. Da bekamen sie richtig Ärger mit dem Polizisten, bis er einsah, dass dies keine Provokation war.“ Die beiden haben diese mutterfreien Zeiten genossen, die sie als Zutrauen durch die Eltern empfanden.

Sohn Christoph ist Seemann mit Kapitänspatent geworden, hat heute eine eigene Reederei auf Rügen. Peter ist Geologe mit einer eigenen Firma für Hydrogeologie. Mit ihren 64 und 69 Jahren sind sie mittlerweile selbst Großeltern. Die Kinder, Enkel und Urenkel kommen zu Besuch nach Molfsee. Auch wenn von den jüngeren Generationen niemand im Haus ist, sind Irmtraut und Gotthilf Hempel bestens versorgt, dank der Vollzeitpflege durch Inga oder einer Kollegin. „Beim Hören, Sehen und Riechen hapert es“, sagt Gotthilf Hempel lachend. „Aber zu dritt schaffen wir den Alltag noch ganz gut.“

Dazu gehört auch die Kürbissuppe, die es jetzt zum Mittagessen gibt. Von Inga zubereitet, löffeln wir sie munter weg – nicht ohne weitere Anekdoten natürlich. So erfahren wir, dass viele prominente Persönlichkeiten zum Bekannten- und Freundeskreis der Hempels gehörten. Der SPD-Politiker Helmut Schmidt und seine Frau Loki zum Beispiel. Die beiden waren im Juli 1989 auf einer Arktisreise an Bord der „Polarstern“. „Da war Helmut Schmidt schon einige Jahre kein Bundeskanzler mehr“, erinnert sich Irmtraut Hempel. „Mit Loki Schmidt konnte ich mich sehr gut über meine Arbeit unterhalten. Sie interessierte sich zwar nicht für meine Krill-Larven, aber für viele andere biologische Themen, vor allem für Botanik. Später haben wir sie mehrfach besucht, zu Hause in Hamburg und im Ferienhaus am Brahm-See.“

Was geben zwei Menschen, die so viel gesehen und erlebt haben, ihren Kindern mit auf den Weg? „Zuverlässigkeit und die Offenheit gegenüber Menschen aus aller Welt“, sagt die Mutter, die viele Jahre lang ausländische Studierende und deren Ehefrauen an der Uni Kiel betreute und dafür 1999 die silberne Ehrennadel der Universität erhielt. „Dass wir Kollegen und Freunde aus vielen Ländern hatten, war damals ja noch nicht so üblich wie heute. Gegenüber Menschen aus anderen Kulturen oder mit anderer Hautfarbe gab es noch viel Zurückhaltung. Ich bin froh, dass wir unseren Kindern vorleben konnten, dass alle Menschen gleich sind.“

Das Thema Klimawandel, das heute zentral am AWI ist, war für die Hempels schon bei der Gründung Anfang der 80er Jahre wichtig. „Mir war klar, dass ein Aufbau der Polarforschung in Deutschland an einem Thema mit dieser gesellschaftlichen Bedeutung nicht vorbeikommt“, sagt Gotthilf Hempel. Das AWI, die Neumayer Station in der Antarktis und der Forschungseisbrecher „Polarstern“ hatten von Beginn an auch dieses Thema im Pflichtenheft.

Vorausschauend zu planen, weltoffen zu sein, neugierig die Welt zu entdecken, auf Augenhöhe miteinander umzugehen, auch und vor allem als Paar – das haben sich Irmtraut und Gotthilf Hempel ein ganzes Leben lang bewahrt. Nicht immer wird das wohl harmonisch vonstatten gegangen sein, lassen die kleinen Zwischentöne in unserm Gespräch erahnen. Jetzt, nach so vielen gemeinsamen Jahren, seien die beiden aber im Reinen mit sich und miteinander. Sie haben zusammengehalten über sieben Jahrzehnte, Kleines und Großes bewirkt, ein ebenso typisches wie völlig untypisches Leben geführt, die deutsche Meeres- und Polarforschung geprägt und dazu beigetragen, dass den Frauen darin der Weg geebnet wurde. 

Mittlerweile lassen es die beiden etwas ruhiger angehen, genießen den ruhigen Platz im alten Strandkorb auf ihrer Terrasse. Den prächtigen Rosenstrauch hat übrigens Sohn Christoph gepflanzt. Für einen letzten Kaffee haben wir noch Zeit. Und dabei geben sie uns noch eine Sache mit auf den Weg, die das Ehe- und Wissenschaftlerpaar besonders gefreut hat - dass die Fotografin, Esther Horvath, ihnen einen ihrer Bildbände mitgebracht hat. Im Strandkorb blättern sie darin, entdecken auch einen Teil ihres Lebens wieder. Denn diese Fotos zeigen unter anderem die wichtige Arbeit, die Frauen in der Polarforschung leisten. Den Beginn davon haben Irmtraut und Gotthilf Hempel maßgeblich mitgestaltet.