Welche Rolle Wolken und vom offenen Ozean kommende warme Luftmassen bei der rasanten Erwärmung der Arktis spielen, steht im Mittelpunkt eines aktuellen Forschungsprojektes des Alfred-Wegener-Instituts auf Spitzbergen. Die Forschenden nehmen dabei eine neue Perspektive ein und verfolgen, wie einzelne Luftmassen sich über dem Meereis abkühlen, Wolken bilden und durch Niederschlag Feuchtigkeit verlieren. Dazu setzen sie spezielle meteorologische Ballons ein, die innerhalb einer Luftmasse kontinuierlich Temperatur und Feuchte messen.
Die Wettervorhersage für die Region um Spitzbergen hatte für Dr. Felix Pithan in den letzten Tagen eine ganz besondere Bedeutung: Er suchte nach einem Einstrom feuchter Luftmassen, um die Rolle der Wolken und der Strahlungskühlung am klaren Himmel für die Veränderungen der Temperatur- und Feuchtigkeitsprofile zu erforschen. Dafür setzt er spezielle meteorologische Ballons ein, sogenannte CMET-Ballons. Starten sollen sie in Luftmassen, die vom offenen Ozean stammen und in Richtung der zentralen Arktis strömen. „Die Beobachtungen sind die ersten echten Lagrangeschen Beobachtungen der Luftmassenveränderung nach einem Feuchtigkeitseinstrom in der Arktis“, erklärt Felix Pithan, der seit letztem Jahr die vom Europäischen Forschungsrat ERC finanzierte Nachwuchsgruppe „A3M-transform“ am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) leitet.
Bei der Lagrangeschen Betrachtungsweise verfolgen die Forschenden, wie sich eine sich bewegende Luftmasse entwickelt, statt Veränderungen der Atmosphäre über einem festen Punkt zu betrachten. „Die CMET-Ballons driften dann bis zu mehrere Tage mit der Luftmasse und liefern uns Daten zu Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Wind. Wir können die Höhe der Ballons über Satellitenkommunikation steuern und so gezielt Profile von wenigen hundert Metern bis mehreren Kilometern über dem Boden erfassen.“ sagt Felix Pithan. „Der erste im Projekt gestartet Ballon konnte 17 Stunden am Stück messen und legte dabei eine Strecke von 642 Kilometern zurück. Er hat einen großen Teil der Framstraße westlich von Spitzbergen überquert und ist mehrere Stunden über dem Meereis gedriftet“, berichtet der AWI-Forscher begeistert. In den kommenden Monaten wird das Team analysieren, wie sich die Luftmasse um den Ballon auf ihrem Weg vom offenen Ozean in die zentrale Arktis abgekühlt hat. Dazu werden die Forschenden auch hochaufgelöste Modelle verwenden, die anders als globale Klima- und Wettermodelle einzelne Wolken simulieren können.
Im Laufe des auf fünf Jahre angelegten Projekts wollen Felix Pithan und sein Team diese Ergebnisse dazu nutzen, den verstärkten Klimawandel in der Arktis besser zu verstehen – Klimamodelle projizieren im Winter eine Erwärmung um bis zu 20 Grad und eine Verdopplung des Niederschlags in diesem Jahrhundert im Vergleich zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Gleichzeitig haben Klimamodelle große Schwierigkeiten, wichtige Prozesse in der Arktis wie etwa den Übergang von flüssigen zu gefrorenen Wolkenpartikeln zu simulieren. „Der Übergang von flüssigen zu Eiswolken ist ein entscheidender Schritt in der Abkühlung ursprünglich warmer Luftmassen über der Arktis. Wenn wir diesen Prozess besser verstehen, können wir genauer vorhersagen, wie sehr sich das Klima bei einer bestimmten CO2-Konzentration erwärmt, weil wir eine wesentliche Unsicherheit in der Klimasensitivität reduzieren“, sagt Felix Pithan.
Das Team will auch verstehen, warum in der Zukunft mehr Wasserdampf in die Arktis transportiert wird – ändert sich vor allem der Wassergehalt der importierten Luftmassen, oder ändert sich die Atmosphärenzirkulation und transportiert mehr warme und feuchte Luftmassen zum Nordpol? Gleichzeitig will das Team erforschen, wie die Veränderungen in der Arktis auf die Atmosphärenzirkulation zurückwirken.
In seiner Forschung fokussiert sich das Team auf relativ warme, feuchte Luftmassen, die in die Arktis transportiert werden. Dort kühlen sie ab und trocknen durch Wolkenbildung und Niederschlag. Kalte, trockene Luftmassen werden dann wieder nach Süden transportiert und nehmen über dem offenen Ozean Wärme und Feuchte auf. Diese Perspektive erklärt zwei unterschiedliche Zustände der Atmosphäre, die im Winter auf Arktisexpeditionen wie MOSAiC beobachtet wurden: Einerseits einen bewölkten Zustand, in dem flüssige Wassertropfen in Wolken die Meereisoberfläche vor weiterer Abkühlung abschirmen. Andererseits einen klaren Zustand, in dem die Oberfläche des Meereises Wärme relativ ungehindert ins Weltall abstrahlt.
Wenn sich die Meereisbedeckung in der Arktis im Winter reduziert, verdunstet über dem offenen Ozean mehr Wasser. Es lag nahe, dieses Wasser als Quelle und Grund dafür anzusehen, dass die Arktis im Winter feuchter wird. „Ein finnisches Forschungsteam hat jedoch gezeigt, dass das meiste so zusätzlich verdunstete Wasser schnell aus der Arktis exportiert wird, während die zusätzliche Feuchte in der Arktis eher aus niedrigeren Breiten importiert wird, wenn man den Luftmassen folgt“, erläutert Felix Pithan. „Deshalb nutzen wir jetzt mit den Ballonstarts die luftmassenverfolgende Perspektive, die uns neue Einblicke ermöglicht.“ Diese kombiniert er anschließend zusätzlich mit den standardmäßigen Atmosphärenmessungen an der AWIPEV-Station sowie den Ergebnissen einer Kampagne mit dem AWI-Forschungsflugzeug Polar 6, an der er im Anschluss an den Stationsaufenthalt von Longyearbyen, Spitzbergen, aus teilnimmt.